Konstruktive Rhetorik. Jürg Häusermann
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Es könnten noch viele Reden zitiert werden, die deshalb als „erfolgreich“ gelten, weil der Redner sein Privileg, zu einer großen Menge zu sprechen, missbraucht hat, um mit Scheinargumenten, schönen Worten oder Ablenkungsmanövern zu brillieren. Deshalb sind die großen Vorbilder der destruktiven Rhetorik meistens politische Redner, Fernsehmoderatorinnen, Pressesprecher – Menschen, deren Beruf es ist, ihre eigene Position in der Auseinandersetzung mit anderen zu behaupten. Wenn sie aber nicht gerade reden, üben sie ihre Macht auf ganz andere Weise aus als durch rhetorische Kunstwerke.
Das Problem ist nicht, dass es Situationen gibt wie Feierstunden oder Wahlkampfveranstaltungen, bei denen eine Rede gehalten wird, um eine Stimmung zu produzieren. Das Problem ist, dass diese Art Rede als Ideal auch auf alle anderen Gelegenheiten des öffentlichen Redens übertragen wird. Dass manchmal versucht wird, dem politischen oder weltanschaulichen Gegner in einer Rede mit Verzicht auf rationale Argumentation eine Niederlage zu verpassen, ist nicht unser Thema, sondern dass diese Art des Redens verherrlicht wird und auch als Maßstab für die Ansprache des einfachen Referenten vor seinem Fachpublikum genommen wird.
Monologische Rhetorik bezieht ihren Nimbus durch die rhetorische Tradition, die einen Typ Rede in den Mittelpunkt stellt: die Überzeugungsrede vor Gericht oder im politischen Forum. Der Erfolg einer solchen Rede misst sich daran, dass die Rednerin die Mehrheit des Publikums auf ihre Seite zieht; es geht um Sieg oder Niederlage, die Mittel heiligen den Zweck. Eine Betrachtungsweise, die diese Art des Redens lehrt, verdient den Namen destruktive Rhetorik. Sie zählt auf den Missbrauch der asymmetrischen Rollenverteilung und auf deren Verherrlichung. Konstruktiv aber spricht, wer akzeptiert und erkennbar macht, dass seine Rede höchsten das zweitwichtigste Ereignis der Kommunikation ist. Ihr übergeordnet ist der Diskurs, in den sie sich einfügt.
8Rhetorik: Die Lehre vom Reden in der Öffentlichkeit
Wer im antiken Athen als Angeklagter oder als Kläger vor Gericht stand, musste seine Sache selbst vertreten. In der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts vor Christus hatte Athen einen politischen und rechtlichen Wandel erlebt. Das erste demokratische Gemeinwesen war entstanden, und dazu gehörten auch die Gerichte. Eine große Gruppe von Bürgern hörte sich die Verhandlung an und entschied, ähnlich wie in einem Geschworenenprozess, dann über den Fall. Es gab keine Anwälte, keinen Staatsanwalt; um sich vor diesen Gerichten zu behaupten, waren die Beteiligten auf ihre rednerischen Fähigkeiten angewiesen.85
Aber es gab Rhetoriklehrer – Dozenten und Berater, die ihre Kunden darin unterrichteten, ihre Sache vor Gericht und auch in der Politik wirksam zu vertreten. Eine Vorstellung von ihrem Fach geben die Lehren der Griechen Protagoras, Gorgias oder Aristoteles aus dem fünften und vierten Jahrhundert vor Christus. Im antiken Rom, in der mittelalterlichen Gelehrtenwelt und in der Neuzeit entwickelte sich die Rhetorik weiter zu einer Wissenschaft, einem System der Vorbereitung, Planung und Durchführung von „Reden“ im weitesten Sinn. Diese klassische Rhetorik befasste sich längst nicht nur mit Anklage und Verteidigung vor Gericht oder mit politischen Debatten. Sie war aufgefächert in Lehreinheiten zu Recherche, Argumentation, Diskussion, Präsentation usw., und zwar in allen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens – gleich, ob es um die Welt der Gerichte oder des Handels, der Medizin oder der Kunst gehen mochte.
Der Anspruch des Fachs Rhetorik ist immer über den einer Kommunikationslehre hinausgegangen. Sie hat seit dem Altertum Aspekte der Philosophie, Psychologie und Sprachwissenschaft einbezogen, die später von eigenen Disziplinen (z.B. Linguistik, Psychologie, Kommunikationswissenschaft) übernommen wurden. Einige davon sind direkt aus der Rhetorik entwickelt worden, andere zumindest können ihre Verwandtschaft nicht leugnen.
Der heutige praktische Rhetorikunterricht umfasst nur noch einen kleinen Teil des klassischen Lehrgebäudes. Das hat aber durchaus seinen Sinn, eben weil es moderne Fächer gibt, die sie entlasten, weil sie Inhalte erforschen, die früher zur Rhetorik gehörten.
Auch in diesem Buch wird der Begriff Rhetorik auf einen besonderen Aspekt der Kommunikation konzentriert. Rhetorik wird verstanden als die Lehre vom Reden in der Öffentlichkeit. Dass diese Lehre trotz ihrer klaren Einschränkung immer noch Rhetorik genannt werden soll, hat zwei Gründe.86 Der eine liegt in der Tradition des Sprachgebrauchs: Im deutschen Sprachraum hat Rhetorik sich als Bezeichnung für alle Formen des praktischen Redetrainings eingebürgert. Unzählige Angebote führen den Begriff im Titel, auch wenn sie keinen Zusammenhang zur wissenschaftlichen Rhetorik erkennen lassen. Deshalb sollte ein Buch wie dieses, das den Bezug zur Wissenschaft beibehält, den Begriff nicht über Bord werfen.
Der zweite Grund hat mit der Perspektive der Rhetorik zu tun, die sich von der anderer Wissenschaften der Kommunikation unterscheidet. Auch wenn uns in der Rhetorik bewusst bleibt, dass es Sender und Empfänger, Rednerin und Zuhörende gibt, nimmt der Ansatz in erster Linie die Rednerin in den Blick. Zwar ist das Publikum nicht rein passiv und das Gelingen hängt nicht zu hundert Prozent von der Rednerin ab. Dennoch werden wir immer wieder auf die Rednerinnenperspektive zurückkommen, weil es die