Konstruktive Rhetorik. Jürg Häusermann
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Zu jeder öffentlichen Rede gehört, dass sie einem Zweck untergeordnet ist. Dieser ist meistens von vornherein festgelegt. Es kann zum Beispiel eine neutrale Information sein (z.B. bei einer Stadtführung oder einer Durchsage am Bahnhof) bzw. Belehrung (z.B. bei öffentlichen Vorträgen oder in Unterrichtssituationen). Je nach Tradition – oder nach Übereinkunft von Redner und Publikum – kann das Ziel auch ganz anderer Art sein:
Reden in der Öffentlichkeit ist zielgerichtet. Doch je mehr Zeit zur Verfügung steht, desto eher werden neben dem Hauptziel auch weitere Ziele verfolgt. Ein Sachvortrag über die Klimaveränderung kann neben dem informativen auch werbenden Charakter haben. Eine unterhaltende Erzählung kann auch eine weltanschauliche Botschaft enthalten usw. Dennoch ist die Rede jeweils einem Hauptziel untergeordnet.
Für die praktische Rhetorik ist es wichtig, auch eine kleinteiligere Handlungsstruktur zu erkennen, die das Hauptziel unterstützt. Ein längerer Vortrag zerfällt zum Beispiel in Hintergrundinformationen, Thesen und Argumente. Zwischendurch werden Hauptaussagen mit Beispielen illustriert, Fragen gestellt, Zusammenfassungen formuliert etc.49 Typisch für die öffentliche Rede ist, dass alle diese Teile in der Verantwortung des Redners liegen. Je dialogischer die Form, desto eher können sich alle Gesprächspartner an den die Hauptaussage stützenden Elementen beteiligen. In einer abwechslungsreich gestalteten Schulstunde zum Beispiel erarbeiten die Schülerinnen einleuchtende Beispiele. In einem Gespräch mit der Ärztin wird der Patient aufgefordert, die wichtigsten Punkte zusammenzufassen. In einem Verkaufsgespräch sind Fragen der Kundin oft wichtiger als die Behauptungen des Verkäufers.
Jede Rede zerfällt in einzelne Teilhandlungen: Ankündigen, Behaupten, Begründen, Illustrieren, Zusammenfassen usw. Sie ist aber in der Regel einem einzigen Ziel untergeordnet, das als Haupthandlung bezeichnet werden kann: Informieren, Unterhalten, Überzeugen, Auffordern usw. Wir werden unter dem Begriff Sprechhandlung oder Sprechakt darauf zurückkommen (
Deshalb ist es sinnvoll, auch den Handlungsaspekt der öffentlichen Rede nicht einseitig aus dem Blickwinkel der Rednerin zu sehen. Die Vorstellung, dass Publikum und Organisatoren an der Ausrichtung der Rede mitbeteiligt sind, nimmt viel Gewicht von den Schultern der hauptverantwortlichen Person. Wenn Rednerin und Publikum auf Augenhöhe sind, sich unter dem Zeichen der Gleichberechtigung finden, ist die Gliederung in Teilhandlungen auch eine Gliederung in Rede und Gegenrede.
6Das Publikum ist nie passiv
»Ein nasskalter Tag im beginnenden Frühjahr 1828, ein Wetter, bei dem man lieber zu Hause blieb. Doch Hunderte von Menschen strömten in Richtung Singakademie zu einer Vorlesungsreihe eines Mannes, der schon seit dem Dezember des vorangegangenen Jahres die Einwohner Berlins fesselte. … Obwohl der größte in Berlin verfügbare Raum mit fast achthundert Personen gefüllt war, herrschte in diesem eine Ruhe, wenn auch eine angespannte, als der Gelehrte den Vortragssaal betrat …«51
Alexander von Humboldts „Cosmos-Vorträge“ waren im Wintersemester 1827/28 ein Publikumsmagnet und die Berichte, die wir von Zuhörenden haben, zeugen von der Autorität des Gelehrten. Der Hinweis auf die „angespannte Ruhe“ zeigt, dass die öffentliche Rede nicht nur Rednerinnen und Rednern, sondern auch denjenigen, die zuhören, besonderes Verhalten abverlangt. Sie richten sich auf die Rolle des zu belehrenden und zu unterhaltenden Publikums ein und machen damit den Schritt von der nichtöffentlichen zur öffentlichen Situation ebenso mit wie der Redner selbst.
Wer alles zum Publikum zählt, wird wiederum von Rahmenbedingungen bestimmt, die Gesellschaft und Institutionen vorgeben. Humboldt hielt seinen Vortrag bewusst in der Sing-Akademie und nicht an der Universität. An dieser wäre er nur von Studierenden und Kollegen gehört worden, und nur von Männern. Frauen wurde der Zugang zu preußischen Universitäten erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts allmählich geöffnet. Humboldt verlangte für seine Vorträge keine Eintrittsgebühr und so kamen Zuhörende „aus den unterschiedlichsten Schichten – von Mitgliedern der königlichen Familie bis zu Kutschern, von Studierenden bis zu Dienstboten, von Gelehrten bis zu Maurern – und die Hälfte waren Frauen.“52
So beteiligt sich das Publikum
Die klassische Anordnung von Bühne und Zuschauerraum sieht für das Publikum eine passive Rolle vor: Zuhören. Dennoch ist es aktiver, sogar im Extremfall einer derartigen Großveranstaltung. Auch wenn keiner ein Wort sagt, sind die verschiedensten Aktivitäten möglich: geistige wie Mitdenken und Mitschreiben, nonverbale wie Lächeln, Stirnrunzeln, Kopfnicken, paraverbale wie Raunen oder Lachen.