Die Flut. Ulrike Schmitzer

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Die Flut - Ulrike Schmitzer Textlicht

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Vogelgezwitscher, keinen Hahn, kein Rascheln der Birken, er hörte nur noch die buddhistische Glocke.

      Lass sie doch, hatte die Frau gesagt. Sie hat so eine Freude.

      Jetzt stand er vor verschlossener Haustür. Der Nachbar schloss nie seine Tür. Ein Zettel war quer über die Tür geklebt. „Versiegelt“ stand darauf. Amt der Landessanitätsdirektion.

      Der Bauer rief mehrmals „Hallo!“. Der Hof war verlassen.

      Zurück auf seinem eigenen Hof startete er das Diesel-Notstromaggregat und ließ sich eine warme Wanne ein.

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      Der Bauer sah sie von Weitem von seiner Kammer aus: eine kleine Figur, die sich die Straße heraufkämpfte. Die Figur hielt ein rasches Schritttempo, ein Rucksack drückte schwer auf ihre Schultern. Sie sah sich ständig um, blieb mehrmals stehen und lief plötzlich in den angrenzenden Wald. Der Bauer beobachtete sie, dann griff er zu seiner Brille und rief in die Küche hinunter.

      Wer kommt, fragte seine Frau ganz aufgeregt.

      Ich glaub, das ist … die Paula, rief der Bauer noch einmal. Die Paula kommt. Er stürmte die Treppe hinunter in den Hof, öffnete das große Tor und lief ihr entgegen.

      Paula umarmte ihn, nahm den Rucksack ab. Zwei kleine Hände streckten sich ihr entgegen, ein verschwitzter Blondschopf kam hervor. Sie zog das erschöpfte Kind aus dem Rucksack, es verlangte nach Wasser. Paula zog das Kind sofort hinter ihren Rücken.

      Bitte Papa, sagte sie. Berühr sie nicht.

      Der Bauer war geschockt. Als seine Frau auf das Kind losstürmte, hatte er sich aber wieder so weit gefasst, dass er sie abfangen konnte. Das Kind schrak zurück. Seine Frau hatte das Tuch über das ganze Gesicht gebunden und nur die Augen freigelassen. Zwei rabenschwarze Sehschlitze im seidenen Blumenmuster.

      Kommt schnell herein, sagte der Bauer und schloss das Tor hinter sich.

      Der Bauer brachte eine Flasche Wasser, Paula goss sie dem Kind über den Kopf und wischte ihm das Gesicht damit ab. Das Kind begann das tropfende Wasser von den Lippen abzulecken und sperrte den Mund weit auf, ohne die Augen zu öffnen. Erschöpft trank es. Paula setzte das Kind danach zur Ofenbank, sie selbst nahm mit ihren Eltern am Esstisch Platz.

      Die Kleine verschlang das Brot, das die Frau gerade aus dem Ofen gezogen hatte. Sie schlief noch mit dem restlichen Brot in der Hand ein.

      Eineinhalb Wochen lang hatte sich Paula von der Stadt bis ins Dorf durchgekämpft. Gerade noch rechtzeitig, bevor die Stadt komplett abgeriegelt worden war. Basti ist weg, sagte sie und weinte. Sie nehmen die Kinder. Kein Mensch weiß, was sie mit ihnen machen. Ich konnte doch nicht einfach abwarten, bis sie zu uns kommen und auch noch die Kleine mitnehmen. Kein Mensch traut sich mehr auf die Straße. Die Lebensmittel werden schon knapp. Wenn sich ein Schwarzer in die Schlange stellen will, verjagen sie ihn. Viele tragen Waffen. Ich wusste gar nicht, dass so viele Menschen Waffen haben. Sie bedrohen dich überall, und an jeder Ecke liegen Tote. An der Infektion sterben die wenigsten. Viele trauen sich nur mehr nachts hinaus, sie plündern, wo immer es Lebensmittel gibt. Was haben sie denn noch zu verlieren? Es heißt, jeder Zweite ist schon infiziert. Aber ich sag euch, in der Stadt sind es viel mehr. Wenn sie nur vor der Flut gewarnt hätten. Sie hat die Autos auf den Straßen mitgerissen, die Fußgänger haben sich an Straßenlaternen festgeklammert. Mülltonnen sind wie Korken auf und ab gehüpft.

      Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie verzweifelt die Stimmung ist. Sie helfen nicht und sie informieren nicht. Wir sind nur nachts unterwegs gewesen, sie musste die ganze Zeit im Rucksack mehr stehen als liegen, ich hatte schon Angst, dass sie mir erstickt. Sie wissen noch nicht einmal, wie die Infektion verläuft. Ich bin so froh, dass ich endlich hier bin. Ich hatte Angst, wir würden verhungern. Ihr habt doch genug zu essen für uns alle? Mutter, hat es dich so schlimm erwischt? Du darfst die Kleine nicht anfassen, niemals, versprich mir das, versprich mir das bitte …

      Paula schlief vor Erschöpfung ein. Der Bauer und seine Frau hatten keine Zeit mehr zu fragen, wo der Enkel war.

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      Die Kleine war zuerst wach. Sie hüpfte von der Ofenbank zu ihrer Mutter, kletterte auf ihren Schoß und rüttelte sie wach. Als die Frau herunterkam, roch es schon nach Kaffee. Paula zog das Kind zum Schutz hinter ihren Rücken.

      Ich pass schon auf, sagte die Frau.

      Paula war verlegen.

      Mama, ich bitte dich, sei nicht böse, sagte sie.

      Ich versteh schon, sagte die Frau. Da riecht’s aber gut nach Kaffee. Sie grinste die Kleine an, die durch die Armbeuge hervorlugte.

      Was ist denn bloß mit den Schweinen los, fragte Paula. Die sind riesig.

      Den Schweinen geht es gut, sagte der Bauer. Das sind die einzigen, denen es gut geht. Die werden immer fetter und frecher.

      Der Bauer deutete auf die Schweine, die sich im ganzen Hof breit machten.

      Die scheißen jetzt rosa, sagte er.

      Alles rosa, sagte die Frau und beugte sich zur Kleinen. So wie du das immer in deinen Bildern zeichnest.

      Schön, kreischte die Kleine, klatschte in die Hände und verlangte einen Stift zum Malen.

      Wo ist der Bub, fragte der Bauer.

      Die Frau sah ihn an und dann Paula.

      Ich weiß es nicht, sagte Paula und weinte. Sie haben ihn direkt von der Schule weggeholt. Ganz am Anfang, vielleicht eine Woche nach der Flut, haben sie gesagt, die Schule muss weitergehen. Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich ihn doch zu Hause behalten. Wer konnte denn so was ahnen?

      Wann hast du ihn zuletzt gesehen, fragte der Bauer.

      Als ich den Buben abholen wollte, war er weg. Aus jeder Klasse fehlten ein paar. Niemand weiß, wie sie sie ausgewählt haben. Warum haben sie bloß ihn mitgenommen? Wir haben geschrien, protestiert. Nichts. Ich glaube, die Schulleitung weiß auch nichts. Der Direktor hätte das nie zugelassen. Der war ein starker, wenn auch oft sehr sturer Mann. Aber er war zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr da. Als seine Ohren schwarz wurden, haben sie ihn sofort abgezogen. 54 Kinder haben sie mitgenommen. Das Warten war furchtbar. Wir hofften doch alle, dass sie wiederkommen. Zwei Wochen später hat Else – die Mutter von Fabian – angerufen. Sie hat geheult, und ich konnte sie erst gar nicht verstehen. Der Fabian war plötzlich wieder da. Sie haben ihn aus einem Bus geschmissen und laufen lassen. Eine Woche später Lukas. Und nach vier Wochen Edgar, der war der Letzte, der zurückgekommen ist. Ich wusste nicht, ob ich noch warten soll. Was, wenn sie die Kleine in der Zwischenzeit auch noch holen? Was, wenn er heimkommt und wir sind nicht mehr da? Hätte ich noch warten sollen, Mama, was hätte ich denn tun sollen?

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