Kintsugi. Andrea Löhndorf
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Was wäre, wenn wir diese Narben, die uns das Leben hin und wieder zufügt, nicht mehr verstecken müssten? Wenn unsere Verletzlichkeit keine Schwäche darstellt, sondern eine Chance auf Wachstum und ein Zeichen innerer Stärke? Dies ist die Lehre von Kintsugi, einer alten japanischen Tradition, deren Ursprung vermutlich im 15. Jahrhundert liegt. Im engeren Sinne handelt es sich bei Kintsugi um ein Kunsthandwerk, das sich der Reparatur von Keramikgegenständen verschrieben hat; es wurzelt jedoch tief im Geist der japanischen Lebensphilosophien und hat viel über die Schönheit von Brüchen und nicht perfekten Dingen zu sagen.
Über die Entstehung von Kintsugi erzählt man sich in Japan folgende Geschichte:
Der achte Ashikaga-Shōgun Yoshimasa (1436–1490) verspürte wenig Neigung für die militärische Rolle, die ihm als Shōgun zukam, er war eher der Kunst, Literatur und Philosophie des Zen zugetan. Unter seiner Herrschaft erblühten die ehrwürdigen japanischen Traditionen des Ikebana, der Tuschemalerei und des No-Theaters, eine besondere Vorliebe entwickelte der Shōgun aber für die Teezeremonie. Als eine seiner liebsten Teeschalen zerbrach, war er deshalb so bestürzt, dass er diese nach China schicken ließ in der Hoffnung, dass die dortigen hochrangigen Keramiker sie wiederherstellen könnten. Als die Schale zurückkam, geriet er jedoch außer sich vor Wut, denn die Scherben der Schale waren einfach lieblos mit Metallklammern zusammengefügt worden. Daraufhin bat er die besten Kunsthandwerker Japans, eine andere Lösung zu finden. Und nach langem Experimentieren konnten diese ihm eine Schale präsentieren, die aus den Scherben der alten bestand, doch von ganz neuer, außergewöhnlicher Schönheit war. Die Bruchlinien waren mit einer besonderen Paste zusammengefügt, der reiner Goldpuder zugesetzt war. Anstatt die Risse zu verbergen, hatten die Keramiker sie sorgfältig zu feinen goldenen Linien veredelt und damit eine Schale geschaffen, die von größerer Kostbarkeit als die alte war. Der Shōgun war hocherfreut. Dies war die Geburtsstunde von Kintsugi.
Kin bedeutet golden, tsugi kann mit verbinden oder reparieren übersetzt werden; Kintsugi steht also für eine »goldene Verbindung« oder »goldene Reparatur«. Der Prozess des traditionellen Kintsugi ist durchaus aufwendig: Für die Herstellung der Klebepaste, des urushi, wird das Harz des ostasiatischen Lackbaums verwendet, und alle damit behandelten Gegenstände müssen bei Temperaturen knapp unter 30 Grad und bei sehr hoher Luftfeuchtigkeit in einer staubfreien Umgebung getrocknet werden. Die gesamte Prozedur dauert mehrere Wochen. Wenn man sie das erste Mal als Beobachter verfolgt, hat man anfangs eher Zweifel, ob daraus etwas Besonderes entstehen kann, denn erst ganz zum Schluss wird auf die Urushi-Stellen der Goldpuder aufgetragen. Nach einer allerletzten Politur schließlich erstrahlt der Gegenstand – durchzogen von zarten, gewundenen goldenen Linien – in einer neuen, überraschenden Schönheit.
Kintsugi hat eine so bezaubernde Wirkung auf den Betrachter, weil es seinen Blick gerade auf die Stellen lenkt, an denen ein Gegenstand zerbrochen wurde, und gleichzeitig zeigt, dass dieser Bruch nicht das Ende bedeutet, sondern nur einen kleinen Schritt auf einer längeren Reise, die weitergeht. Der Gegenstand ist nicht mehr einer unter vielen (mochte er vorher auch noch so perfekt gewesen sein), sondern hat seine eigene, einzigartige Geschichte zu erzählen: von Brüchen und Heilung, von Verlust und Versöhnung, von Trennung und Neubeginn. Er wird auf diese Weise zu einem Symbol der Verletzlichkeit, der Kraft und der Schönheit – er ist durch Kintsugi noch kostbarer geworden. Der Überlieferung nach waren die Menschen des alten Japan von der neuen Kunst so begeistert, dass manche ihr Geschirr absichtlich zerschlugen, um es mithilfe von Kintsugi verschönern zu lassen.
Doch Kintsugi ist mehr als nur ein Kunsthandwerk; es ist ein poetisches Bild für den Prozess, den Menschen durchlaufen, wenn ihr Leben »auseinanderbricht«, wenn sie eine schmerzhafte Krise oder einen Verlust erleben und sich der Aufgabe stellen, die Scherben ihres alten Lebens aufzulesen und daraus ein neues Leben zu erschaffen – ein Leben, das, indem es den Schmerz integriert und verwandelt, noch erfüllter sein kann als das alte, das sie verloren haben. Das Bild ist deshalb so anrührend, weil es einen uralten Menschheitstraum quasi wie ein »Handwerk« möglich zu machen scheint: durch Wunden und Rückschläge zu wachsen und stärker zu werden, statt daran zu zerbrechen; und noch mehr Liebe und Wertschätzung für sich selbst, für andere und das Leben zu entwickeln.
Seitdem Menschen begonnen haben, sich Geschichten zu erzählen, berichten sie von dem Wandel, den ihre Helden erfahren, wenn sie alles verlieren, Drachen zu überwinden haben (und Schlimmeres) und am Ende ein Königreich gewinnen (oder zumindest ein sinnvolles und glückliches Leben). Ebenso wie die Alchemisten des frühen Mittelalters versuchten, mithilfe des Steins der Weisen aus unedlen Metallen Gold herzustellen, lässt uns unsere Hoffnung, dass wir die Wechselfälle des Lebens in etwas Wertvolles verwandeln können, in Krisen standhalten.
Letzte Nacht träumte ich – selige Illusion –
ich hätte einen Bienenkorb hier drinnen
in meinem Herzen
und die goldenen Bienen machten
weiße Waben und süßen Honig
aus meinen alten Misserfolgen.
ANTONIO MACHADO
Seit ich das erste Mal von Kintsugi gehört habe, hat mich das Thema fasziniert. Was könnte es bedeuten, Kintsugi auf das eigene Leben anzuwenden? Das Bild eines Menschenlebens, durchzogen von feinen goldenen Linien, die seine nicht vollkommene, doch mit all seinen Brüchen bedeutsame und wertvolle Geschichte erzählen, hat etwas zutiefst Versöhnliches und Menschliches – und steht in krassem Gegensatz zu unserer auf Perfektion getrimmten, durchgestylten Hochglanzwelt, in der jeder Makel effizient eliminiert werden muss. Vielleicht ist es gerade deshalb an der Zeit, diese Lebenskunst für sich zu entdecken, um mehr inneren Frieden zu finden.
Kintsugi im eigenen Leben
Zum großen Puzzle des Lebens gehören Enttäuschung, Verlust, Krankheit, Trennung, Zurückweisung, Scheitern, Altern und Tod. Je nach Schwere des Ereignisses können wir kurzzeitige Frustration erfahren oder auch eine lange Phase des Trauerns erleben, sicher ist jedoch: Es schmerzt. Da wir Menschen und keine Roboter sind, werden wir diesem Schmerz nicht ausweichen können. Wir können ihn für eine gewisse Zeit verdrängen, indem wir uns ablenken, betäuben oder ihn mit großer Anstrengung unterdrücken, doch letztlich werden wir nicht darum herumkommen, ihn irgendwann zu spüren, ihn sozusagen »zu Ende zu fühlen«, denn diese Phase wird, wenn es sich nicht um sehr traumatische Erfahrungen handelt, irgendwann vorbeigehen.
Was sich aber zusätzlich zu diesem Schmerz über das Ereignis an sich gesellt, ist etwas, was der Arzt und Psychotherapeut Russ Harris »Realitätskluft« nennt. Mitten in unserem Leben, in dem wir uns eingerichtet haben, tut sich eine Kluft auf zwischen der Realität, die wir gehabt haben oder die wir uns wünschen, und der Realität, mit der wir ungewollt konfrontiert werden. Es fühlt sich an, als würden wir aus einem Traum aufwachen und mit einem Mal erkennen, dass wir leider doch kein Favorit des Schicksals sind, sondern einfach nur ein Mensch, der scheitert, dem übel mitgespielt wird oder dem schwierige Dinge geschehen. Diese Realitätskluft ist wie eine Wunde, die sich in unserem Leben auftut.
Die Wunde ist der Ort,
wo das Licht in dich eintritt.
RUMI
Häufig reagieren wir darauf mit großem Widerstand. Wir hadern vielleicht mit dem Gedanken: »Warum ich? Das Leben ist ungerecht.« Und wüten gegen ein Schicksal, das wir nicht begreifen. Das Leben ist tatsächlich oft nicht fair, es rechnet in einer Währung ab, die wir nicht verstehen: