Der Mann ohne Eigenschaften. Robert Musil

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Der Mann ohne Eigenschaften - Robert Musil

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in gewissem Sinn ein Willensbeschluß oder ein gewählter Grad zwischen Allgemeinheit und Personhaftigkeit, auf dem man lebt. Ganz einfach gesprochen, man kann sich zu den Dingen, die einem widerfahren oder die man tut, mehr allgemein oder mehr persönlich verhalten. Man kann einen Schlag außer als Schmerz auch als Kränkung empfinden, wodurch er unerträglich wächst; aber man kann ihn auch sportlich aufnehmen, als ein Hindernis, von dem man sich weder einschüchtern noch in blinden Zorn bringen lassen darf, und dann kommt es nicht selten vor, daß man ihn überhaupt nicht bemerkt. In diesem zweiten Fall ist aber nichts anderes geschehen, als daß man ihn in einen allgemeinen Zusammenhang, nämlich den der Kampfhandlung, eingeordnet hat, wobei sich sein Wesen abhängig von der Aufgabe erwies, die er zu erfüllen hat. Und gerade diese Erscheinung, daß ein Erlebnis seine Bedeutung, ja seinen Inhalt erst durch seine Stellung in einer Kette folgerichtiger Handlungen erhält, zeigt jeder Mensch, der es nicht als ein nur persönliches Geschehnis, sondern als eine Herausforderung seiner geistigen Kraft ansieht. Auch er wird, was er tut, dann schwächer empfinden; aber wunderlicherweise nennt man das, was man beim Boxen als überlegene Geisteskraft empfindet, nur kalt und gefühllos, sobald es bei Menschen, die nicht boxen können, aus Neigung zu einer geistigen Lebenshaltung entsteht. Es sind da eben noch allerhand Unterscheidungen gebräuchlich, um je nach der Lage ein allgemeines oder ein persönliches Verhalten anzuwenden und zu fordern. Einem Mörder wird es, wenn er sachlich vorgeht, als besondere Roheit ausgelegt; einem Professor, der in den Armen seiner Gattin an einer Aufgabe weiterrechnet, als knöcherne Trockenheit; einem Politiker, der über vernichtete Menschen in die Höhe steigt, je nach dem Erfolg als Gemeinheit oder Größe; von Soldaten, Henkern und Chirurgen dagegen fordert man geradezu diese Unerschütterlichkeit, die man an anderen verurteilt. Ohne daß man sich weiter auf die Moral dieser Beispiele einzulassen brauchte, fällt die Unsicherheit auf, mit der jedesmal ein Kompromiß zwischen sachlich richtigem und persönlich richtigem Verhalten geschlossen wird.

      Diese Unsicherheit gab der persönlichen Frage Ulrichs einen weiten Hintergrund. Man ist früher mit besserem Gewissen Person gewesen als heute. Die Menschen glichen den Halmen im Getreide; sie wurden von Gott, Hagel, Feuersbrunst, Pestilenz und Krieg wahrscheinlich heftiger hin und her bewegt als jetzt, aber im ganzen, stadtweise, landstrichweise, als Feld, und was für den einzelnen Halm außerdem noch an persönlicher Bewegung übrig blieb, das ließ sich verantworten und war eine klar abgegrenzte Sache. Heute dagegen hat die Verantwortung ihren Schwerpunkt nicht im Menschen, sondern in den Sachzusammenhängen. Hat man nicht bemerkt, daß sich die Erlebnisse vom Menschen unabhängig gemacht haben? Sie sind aufs Theater gegangen; in die Bücher, in die Berichte der Forschungsstätten und Forschungsreisen, in die Gesinnungs- und Religionsgemeinschaften, die bestimmte Arten des Erlebens auf Kosten der anderen ausbilden wie in einem sozialen Experimentalversuch, und sofern die Erlebnisse sich nicht gerade in der Arbeit befinden, liegen sie einfach in der Luft; wer kann da heute noch sagen, daß sein Zorn wirklich sein Zorn sei, wo ihm so viele Leute dreinreden und es besser verstehen als er?! Es ist eine Welt von Eigenschaften ohne Mann entstanden, von Erlebnissen ohne den, der sie erlebt, und es sieht beinahe aus, als ob im Idealfall der Mensch überhaupt nichts mehr privat erleben werde und die freundliche Schwere der persönlichen Verantwortung sich in ein Formelsystem von möglichen Bedeutungen auflösen solle. Wahrscheinlich ist die Auflösung des anthropozentrischen Verhaltens, das den Menschen so lange Zeit für den Mittelpunkt des Weltalls gehalten hat, aber nun schon seit Jahrhunderten im Schwinden ist, endlich beim Ich selbst angelangt; denn der Glaube, am Erleben sei das wichtigste, daß man es erlebe, und am Tun, daß man es tue, fängt an, den meisten Menschen als eine Naivität zu erscheinen. Es gibt wohl noch Leute, die ganz persönlich leben; sie sagen »Wir waren gestern bei dem und dem« oder »Wir machen heute das und das«, und ohne daß es sonst noch Inhalt und Bedeutung zu haben brauchte, freuen sie sich darüber. Sie lieben alles, was mit ihren Fingern in Berührung tritt, und sind so rein Privatperson, wie das nur möglich ist; die Welt wird Privatwelt, sobald sie mit ihnen zu tun bekommt, und leuchtet wie ein Regenbogen. Vielleicht sind sie sehr glücklich; aber diese Art Leute erscheint den anderen gewöhnlich schon absurd, obgleich es noch keineswegs sicher ist, warum. – Und mit einemmal mußte sich Ulrich angesichts dieser Bedenken lächelnd eingestehn, daß er mit alledem ja doch ein Charakter sei, auch ohne einen zu haben.

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      Ein Mann mit allen Eigenschaften, aber sie sind ihm gleichgültig Ein Fürst des Geistes wird verhaftet, und die Parallelaktion erhält ihren Ehrensekretär

      Es ist nicht schwer, diesen zweiunddreißigjährigen Mann Ulrich in seinen Grundzügen zu beschreiben, auch wenn er von sich selbst nur weiß, daß er es gleich nah und weit zu allen Eigenschaften hätte und daß sie ihm alle, ob sie nun die seinen geworden sind oder nicht, in einer sonderbaren Weise gleichgültig sind. Mit der seelischen Beweglichkeit, die einfach eine sehr mannigfaltige Anlage zur Voraussetzung hat, verbindet sich bei ihm noch eine gewisse Angriffslust. Er ist ein männlicher Kopf. Er ist nicht empfindsam für andere Menschen und hat sich selten in sie hinein versetzt, außer um sie für seine Zwecke kennen zu lernen. Er achtet Rechte nicht, wenn er nicht den achtet, der sie besitzt, und das geschieht selten. Denn es hat sich mit der Zeit eine gewisse Bereitschaft zur Verneinung in ihm entwickelt; eine biegsame Dialektik des Gefühls, die ihn leicht dazu verleitet, in etwas, das allgemein gut geheißen wird, einen Schaden zu entdecken, dagegen etwas Verbotenes zu verteidigen und Pflichten mit dem Unwillen abzulehnen, der aus dem Willen zur Schaffung eigener Pflichten hervorgeht. Trotz dieses Willens überläßt er aber seine moralische Führung, mit gewissen Ausnahmen, die er sich gestattet, einfach jenem ritterlichen Anstand, der in der bürgerlichen Gesellschaft so ziemlich alle Männer leitet, solange sie in geordneten Verhältnissen leben, und führt auf diese Weise mit dem Hochmut, der Rücksichtslosigkeit und Nachlässigkeit eines Menschen, der zu seiner Tat berufen ist, das Leben eines anderen Menschen, der von seinen Neigungen und Fähigkeiten einen mehr oder weniger gewöhnlichen, nützlichen und sozialen Gebrauch macht. Er war es gewohnt, sich aus natürlichem Trieb und ohne Eitelkeit für das Werkzeug zu einem nicht unbedeutenden Zweck zu halten, den er schon noch rechtzeitig zu erfahren gedachte, und selbst jetzt, in diesem begonnenen Jahr der suchenden Unruhe, nachdem er das steuerlose Treiben seines Lebens eingesehen hatte, stellte sich bald wieder das Gefühl ein, auf dem Wege zu sein, und er gab sich mit seinem Plan gar keine besondere Mühe. Es ist nicht ganz leicht, in einer solchen Natur die sie treibende Leidenschaft zu erkennen; Anlage und Umstände haben sie vieldeutig geformt, ihr Schicksal ist noch durch keinen wirklich harten Gegendruck entblößt worden, die Hauptsache ist aber, daß ihr zur Entscheidung noch etwas fehlt, das ihr unbekannt ist. Ulrich ist ein Mensch, der von irgend etwas gezwungen wird, gegen sich selbst zu leben, obgleich er sich scheinbar ohne Zwang gehen läßt.

      Der Vergleich der Welt mit einem Laboratorium hatte in ihm nun eine alte Vorstellung wiedererweckt. So wie eine große Versuchsstätte, wo die besten Arten, Mensch zu sein, durchgeprobt und neue entdeckt werden müßten, hatte er sich früher oft das Leben gedacht, wenn es ihm gefallen sollte. Daß das Gesamtlaboratorium etwas planlos arbeitete und daß die Leiter und die Theoretiker des Ganzen fehlten, gehörte auf ein anderes Blatt. Man konnte ja wohl sagen, daß er selbst so etwas wie ein Fürst und Herr des Geistes hätte werden wollen: Wer allerdings nicht?! Es ist so natürlich, daß der Geist als das Höchste und über allem Herrschende gilt. Es wird gelehrt. Was kann, schmückt sich mit Geist, verbrämt sich. Geist ist, in Verbindung mit irgendetwas, das Verbreitetste, das es gibt. Der Geist der Treue, der Geist der Liebe, ein männlicher Geist, ein gebildeter Geist, der größte Geist der Gegenwart, wir wollen den Geist dieser und jener Sache hochhalten, und wir wollen im Geiste unserer Bewegung handeln: wie fest und unanstößig klingt das bis in die untersten Stufen. Alles übrige, das alltägliche Verbrechen oder die emsige Erwerbsgier, erscheint daneben als das Uneingestandene, der Schmutz, den Gott aus seinen Zehennägeln entfernt.

      Aber wenn Geist allein dasteht, als nacktes Hauptwort, kahl wie ein Gespenst, dem man ein Leintuch borgen möchte, – wie ist es dann? Man kann die Dichter lesen, die Philosophen studieren, Bilder kaufen und nächteweise Gespräche führen: aber ist es Geist, was man dabei gewinnt? Angenommen, man gewönne ihn: aber besitzt man ihn dann? Dieser Geist ist so fest verbunden mit der zufälligen Gestalt seines Auftretens! Er geht durch den Menschen, der ihn aufnehmen möchte, hindurch und

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