Der Mann ohne Eigenschaften. Robert Musil

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Der Mann ohne Eigenschaften - Robert Musil

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geschriebenen Zeilen blieben feucht glänzen, ohne daß sie gelöscht wurden, und der Fall Ulrich zeigte sich mit einemmal als schon seit längerer Zeit ins hieramtliche Dasein getreten. Name? Alter? Beruf? Wohnung? ...: Ulrich wurde befragt.

      Er glaubte, in eine Maschine geraten zu sein, die ihn in unpersönliche, allgemeine Bestandteile zergliederte, ehe von seiner Schuld oder Unschuld auch nur die Rede war. Sein Name, diese zwei vorstellungsärmsten, aber gefühlsreichsten Worte der Sprache, sagte hier gar nichts. Seine Arbeiten, die ihm in der wissenschaftlichen Welt, die doch sonst für solid gilt, Ehre eingetragen hätten, waren in dieser Welt hier nicht vorhanden; er wurde nicht ein einziges Mal nach ihnen gefragt. Sein Gesicht galt nur als Signalement; er hatte den Eindruck, nie früher bedacht zu haben, daß seine Augen graue Augen waren, eines von den vorhandenen vier, amtlich zugelassenen Augenpaaren, das es in Millionen Stücken gab; seine Haare waren blond, seine Gestalt groß, sein Gesicht oval, und besondere Kennzeichen hatte er keine, obgleich er selbst eine andere Meinung davon besaß. Nach seinem Gefühl war er groß, seine Schultern waren breit, sein Brustkorb saß wie ein gewölbtes Segel am Mast, und die Gelenke seines Körpers schlossen wie schmale Stahlglieder die Muskeln ab, sobald er sich ärgerte, stritt oder Bonadea sich an ihn schmiegte; er war dagegen schmal, zart, dunkel und weich wie eine im Wasser schwebende Meduse, sobald er ein Buch las, das ihn ergriff, oder von einem Atem der heimatlosen großen Liebe gestreift wurde, deren In-der-Welt-Sein er niemals hatte begreifen können. Er besaß darum selbst in diesem Augenblick noch Sinn für die statistische Entzauberung seiner Person, und das von dem Polizeiorgan auf ihn angewandte Maß- und Beschreibungsverfahren begeisterte ihn wie ein vom Satan erfundenes Liebesgedicht. Das Wunderbarste daran war, daß die Polizei einen Menschen nicht nur so zergliedern kann, daß von ihm nichts übrigbleibt, sondern daß sie ihn aus diesen nichtigen Bestandteilen auch wieder unverwechselbar zusammensetzt und an ihnen erkennt. Es ist für diese Leistung nur nötig, daß etwas Unwägbares hinzutritt, daß sie Verdacht nennt.

      Ulrich begriff mit einemmal, daß er sich nur durch kälteste Klugheit aus der Lage ziehen könne, in die er durch seine Torheit geraten war. Man befragte ihn weiter. Er stellte sich vor, welche Wirkung es haben würde, wenn er, nach seiner Wohnung gefragt, antworten wollte, meine Wohnung ist die einer mir fremden Person? Oder auf die Frage, warum er getan habe, was er getan hatte, erwiderte, er tue immer etwas anderes als das, worauf es ihm wirklich ankomme? Aber nach außen gab er brav Straße und Hausnummer an und versuchte eine entschuldigende Darstellung seines Verhaltens zu erfinden. Die innere Autorität des Geistes war dabei in einer äußerst peinlichen Weise ohnmächtig gegenüber der äußeren Autorität des Wachtmeisters. Endlich erspähte er trotzdem eine rettende Wendung. Noch als er, nach seinem Beruf gefragt, »privat« angab – Privatgelehrter hätte er nicht über die Lippen gebracht – hatte er einen Blick auf sich ruhen gefühlt, der genau so dreinsah, als ob er »obdachlos« gesagt hätte; aber als nun bei der Abgabe des Nationales sein Vater darankam und es in Erscheinung trat, daß er Mitglied des Herrenhauses sei, da wurde das ein anderer Blick. Er war noch immer mißtrauisch, aber irgendetwas gab Ulrich sofort ein Gefühl, wie wenn ein von Meereswogen hin und her gewalzter Mann mit der großen Zehe festen Grund streift. Mit rasch erwachender Geistesgegenwart nützte er es aus. Er schwächte augenblicklich alles ab, was er schon zugegeben hatte, setzte der Autorität von Ohren, die sich im Eideszustand des Dienstes befunden hatten, das nachdrückliche Verlangen entgegen, vom Kommissär selbst vernommen zu werden, und als dies bloß Lächeln hervorrief, log er – in glücklich gefundener Natürlichkeit, sehr nebenbei und bereit, die Behauptung sogleich wieder zu verreden, falls man ihm aus ihr die Schlinge eines genaue Angaben heischenden Fragezeichens drehen sollte – daß er der Freund des Grafen Leinsdorf und Sekretär der großen patriotischen Aktion sei, von der man in den Zeitungen wohl gelesen haben werde. Er konnte sogleich bemerken, daß er damit jene ernstere Nachdenklichkeit über sein Wesen erregte, die ihm bisher versagt geblieben war, und hielt seinen Vorteil fest. Die Folge war, daß der Wachtmeister ihn erzürnt musterte, weil er weder die Verantwortung übernehmen wollte, diesen Fang länger zurückzubehalten, noch ihn laufen zu lassen; und weil um diese Stunde kein höherer Beamter im Hause war, verfiel er auf einen Ausweg, der dem einfachen Wachtmeister ein schönes Zeugnis darüber ausstellte, daß er von der Art, wie seine vorgesetzten Konzeptsbeamten unangenehme Akten behandelten, etwas gelernt hatte. Er setzte eine wichtige Miene auf und äußerte ernste Vermutungen, daß sich Ulrich nicht nur der Wachbeleidigung und Störung einer Amtshandlung schuldig gemacht habe, sondern gerade wenn man die Stellung bedenke, die er einzunehmen behaupte, auch unaufgeklärter, vielleicht politischer Umtriebe verdächtig sei, weshalb er sich damit vertraut zu machen habe, der politischen Abteilung des Polizeipräsidiums übergeben zu werden.

      So fuhr Ulrich wenige Minuten später in einem Wagen, den man ihm verstattet hatte, durch die Nacht dahin, einen wenig zu Gespräch geneigten Zivilschutzmann an seiner Seite. Als sie sich dem Polizeipräsidium näherten, sah der Verhaftete die Fenster des ersten Stockwerks festlich erleuchtet, denn es fand eine wichtige Sitzung beim obersten Chef noch zu später Stunde statt, das Haus war kein finsterer Stall, sondern glich einem Ministerium, und er atmete bereits eine vertrautere Luft. Er bemerkte auch bald, daß der Beamte vom Nachtdienst, dem er vorgeführt wurde, rasch den Unsinn erkannte, den das gereizte periphere Organ mit seiner Anzeige angerichtet hatte; dennoch schien es ihm ungemein unangezeigt zu sein, einen Menschen aus den Fängen der Gerechtigkeit zu entlassen, der die Unbekümmertheit besessen hatte, selbst in sie hineinzurennen. Auch der Beamte des Präsidiums trug in seinem Gesicht eine eiserne Maschine und versicherte dem Gefangenen, daß seine Unüberlegtheit es äußerst schwer erscheinen lasse, eine Enthaftung zu verantworten. Dieser hatte schon zweimal alles vorgebracht, was so günstig auf den Wachtmeister gewirkt hatte, aber dem höher stehenden Beamten gegenüber blieb das vergeblich, und Ulrich wollte seine Sache schon verlorengeben, als mit einemmal in das Gesicht seines Richters eine merkwürdige, fast glückliche Veränderung kam. Er betrachtete die Anzeige noch einmal genau, ließ sich Ulrichs Namen noch einmal vorsprechen, versicherte sich seiner Adresse und ersuchte ihn höflich, einen Augenblick zu warten, während er das Zimmer verließ. Es dauerte zehn Minuten, bis er wie ein Mensch wiederkam, der sich an etwas Angenehmes erinnert hat, und den Arrestanten nun schon auffallend höflich einlud, ihm zu folgen. An der Türe eines der erleuchteten Zimmer im oberen Stockwerk sagte er nichts weiter als »Der Herr Polizeipräsident wünscht Sie selbst zu sprechen«, und im nächsten Augenblick stand Ulrich vor einem aus dem benachbarten Sitzungssaal gekommenen Herrn mit dem geteilten Backenbart, den er nun schon kannte. Er war entschlossen, seine Anwesenheit als einen Mißgriff des Reviers mit sanftem Vorwurf zu erklären, aber der Präsident kam ihm zuvor und begrüßte ihn mit den Worten: »Ein Mißverständnis, lieber Doktor, der Herr Kommissär hat mir schon alles erzählt. Trotzdem müssen wir Sie in eine kleine Strafe nehmen, denn –« Er sah ihn bei diesen Worten schelmisch an (soweit schelmisch von einem höchsten Polizeibeamten überhaupt gesagt werden darf), als wolle er ihn selbst das Rätsel erraten lassen.

      Ulrich erriet es jedoch durchaus nicht.

      »Seine Erlaucht!« half der Präsident.

      »Seine Erlaucht Graf Leinsdorf« fügte er hinzu »hat sich erst vor wenigen Stunden bei mir auf das lebhafteste nach Ihnen erkundigt.«

      Ulrich begriff erst zur Hälfte. »Sie stehn nicht im Adreßbuch, Herr Doktor!« erläuterte der Präsident mit scherzhaftem Vorwurf, als wäre nur das Ulrichs Verbrechen.

      Ulrich verbeugte sich, gemessen lächelnd.

      »Ich nehme an, daß Sie morgen Seiner Erlaucht in einer Angelegenheit von großer öffentlicher Wichtigkeit Ihren Besuch machen müssen, und bringe es nicht über mich, Sie durch Einkerkerung daran zu hindern.« So schloß der Herr der eisernen Maschine seinen kleinen Scherz.

      Man darf annehmen, daß der Präsident die Verhaftung in jedem anderen Falle auch als unrecht empfunden hätte und daß der Kommissär, der sich zufällig des Zusammenhangs entsann, in dem Ulrichs Name wenige Stunden früher zum erstenmal in diesem Hause aufgetaucht war, dem Präsident den Vorfall genau so dargestellt hatte, wie ihn der Präsident zu diesem Zweck sehen mußte, so daß niemand willkürlich in den Lauf der Dinge eingegriffen

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