Meine Trauer traut sich was. Andrea Riedinger
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Anstatt einfach da zu sein, zuzuhören und Anteil zu nehmen, macht sich der eine im Vorfeld so viele Gedanken über seine Worte, dass schnell der Mut zur Begegnung fehlt. Ein anderer verhaspelt sich in Floskeln, um etwas Allgemeingültiges beizutragen. „Die Zeit heilt alle Wunden“, diesen Satz kann nur jemand sagen, der sich noch nie in einer Krisensituation befand. So etwas will man wirklich nicht hören, wenn die Welt für einen in Trümmern liegt, auch wenn der Satz ein Körnchen Wahrheit beinhaltet. Denn Zeit verschafft einen gewissen Abstand. Mit dieser Distanz vom unmittelbaren Geschehen wird es nicht unbedingt gut, aber zumindest anders. Doch bis es so weit ist, dauert es lang. Im konkreten Schmerz hilft dieses Wissen kein bisschen.
Sie haben allein durch Zuhören viel mehr zu bieten, als Sie denken, auch wenn es auf den ersten Blick nach wenig aussieht. Sie müssen nicht viel sagen. Den aktiven Part wird Ihr Gegenüber einnehmen, denn bei ihm sind viele Dinge geschehen und es ist einiges in Unordnung geraten. Machen Sie sich als Familienangehöriger, Freund, Bekannter oder Kollege bewusst, dass es reicht, einfach zuzuhören. Es kann gut sein, dass der Betroffene, der am Anfang des Gesprächs noch äußerlich gefasst wirkte, nach kurzer Zeit in Tränen ausbricht. Tränen sind nicht schlimm. Sie wirken meist sogar reinigend.
Einfach nur zuzuhören ist schwerer als man denkt. Denn spricht man mit jemandem, der Schreckliches erleben musste oder immer noch muss, möchte man nicht, dass sich der andere nach der Begegnung schlechter fühlt. Ganz im Gegenteil. Jeder will helfen und dazu beitragen, dass es dem Gegenüber wieder besser geht. Das ist sehr ehrenhaft, aber es funktioniert einfach nicht. Zumindest nicht so.
Das größte Missverständnis liegt vor allem darin, dass viele denken, dem Betroffenen nun ganz viel Zuspruch und Trost spenden zu müssen. Sie möchten, dass sich ihr Gesprächspartner nach dem Gespräch besser fühlt als zuvor.
Sie verkennen, dass es meist genügt, ein Gespräch anzustoßen. Dazu reicht ein einziger Satz oder eine einzige ernst gemeinte Frage. Das Wichtigste ist, sich bewusst zu machen, dass niemand, kein Betroffener, kein Familienangehöriger, Freund, Verwandter oder Kollege ein Problem lösen muss oder kann.
Der hohe Anspruch an sich selbst macht die Situation häufig nur komplizierter, als sie ist. Niemand muss das Problem, das Leid, den Schmerz, die Ohnmacht und die Hoffnungslosigkeit seines Gegenübers auffangen, niemand kann die Last des anderen einfach beseitigen.
Wann kommt er wieder?
Diesmal halte ich Svenja auf dem Arm, als ich mich mit ihr am Vormittag erneut auf die Bettkante des Krankenbettes setze. Ich habe meine Tochter seit gestern Morgen nicht mehr gesehen. Ich kann sie nur an mich drücken, erklären kann ich ihr momentan nichts. „Pssssst. Papa, heia“, zischt sie ganz liebevoll in mein Ohr, nachdem sie einen Blick auf ihn geworfen hat. Ich zucke zusammen. Schlafen. Ach, würde er doch nur schlafen. Doch ich weiß genau, dass es nicht so ist und kann ihr trotzdem nicht antworten. Mir ist klar, dass ich das nachholen muss, doch im Moment schaffe ich nicht zu sprechen. Die Ruhe und Sicherheit, die meine Bewegung ausstrahlt, könnte meine Stimme nicht widerspiegeln. Es ist friedlich im Zimmer. Ganz anders als noch wenige Minuten zuvor. Ich handele mechanisch. In mir drin ist nichts, alles fühlt sich taub an. Wir sitzen einfach da und sehen ihn an. Kinder spüren besondere Momente. Svenja ist mucksmäuschenstill. Und trotzdem scheint sie sich keineswegs unwohl zu fühlen.
Einen Tag später fasse ich mir ein Herz. Ich kann Svenja nicht tagelang im Glauben lassen, dass Andi weiterhin im Krankenhaus liegt. Sie merkt, dass irgendetwas vorgefallen ist. Um sie herum herrscht Traurigkeit, die sie nicht greifen kann. Trotz ihrer knappen zwei Jahre spürt sie die Veränderung. „Der Papa ist nicht mehr im Krankenhaus. Er ist gestern gestorben und hat nun keine Schmerzen mehr.“ Ich wähle ganz bewusst das Wort „gestorben“. Auch das Wort „tot“ erwähne ich in meinen weiteren Erklärungen. Sie soll es einmal gehört haben. Und zwar in Verbindung mit ihrem Papa. Und von mir.
Wie ich erwartet habe, erhalte ich in kleinkindlicher Sprache die Antwort: „Und wann kommt er wieder?“ Auch das beantworte ich ehrlich: „Wir können ihn leider nicht wiedersehen.“ Auch wenn diese Worte für die Vorstellungskraft eines kleinen Mädchens zu viel sind. Sie sind ehrlich. Wichtig ist, dass sie gesagt wurden. Glauben kann ich sie selbst noch nicht. Auch unser Kind muss erst begreifen lernen. Wichtig für sie ist, dass er nicht einfach eingeschlafen ist, wie das jeder Mensch abends tut. Eben auch die Mama. Diese Angst muss ich ihr im Vorfeld nehmen. „Papa ist gestorben.“ Die Worte faszinieren sie. Das neue Wort erzeugt ungeheure Emotionen und Aufmerksamkeit bei jedem Gegenüber. Das merkt sie, obwohl sie den Satz kaum sprechen kann. Er hat sich in ihrem kleinen Köpfchen eingebrannt und fällt die nächsten Wochen mehrfach am Tag.
Diese Tage beschreiben den Tiefpunkt meines Lebens. Doch auch wenn es mir damals noch nicht klar war: Dieses Gespräch war ein Wendepunkt, denn es beweist, dass aus klaren, wahren Worten Kraft und Stärke entstehen können. Jedes neue Gespräch, das ich heute in dieser Direktheit und Offenheit führe, bestärkt mich auf meinem Kurs. Die ehrlichen Worte haben meiner Tochter gutgetan. Sie haben sie gestärkt und selbstbewusst gemacht. Sie hat keine Scheu davor, ihren Papa zu erwähnen, genauso wenig seinen Tod. Und heute erleben wir, dass wir ihn auch in fröhliche Situationen verbal einbinden können, denn das Reden über ihn ist eine Selbstverständlichkeit geworden.
Die Fragen, mit denen Svenja mich immer wieder aufs Neue aus dem Konzept bringt, zeigen mir, dass sie von mir gelernt hat. Unsere Worte machen uns stark, egal mit was oder wem wir konfrontiert werden, und so wehren wir uns gegen das Ausgeliefertsein. Wir nutzen unsere Stimme. Sie löst kein Problem, aber verändert den persönlichen Zustand. Wir treten der Unsicherheit entgegen und benennen das Unfassbare.
Gespräche verleihen die Stärke, die nötig ist, um sich mit schwierigen Situationen besser auseinandersetzen zu können. Wir erhalten die Möglichkeit, das Leben, den Alltag und die eigenen Gefühle wieder aktiv zu gestalten. Wir können konkret sagen, ob es uns gerade gut geht oder eben nicht, ob wir Hilfe oder einfach einen Zuhörer brauchen. Dieser Dialog, der nicht nur an der Oberfläche geführt wird, verbindet uns mit Menschen. Ich habe diese Erfahrung immer wieder gemacht. Erstaunlicherweise sind es nicht unbedingt die engsten Freunde oder nächsten Verwandten, mit denen man die intensivsten Gespräche führt. Bis heute überraschen mich Menschen, die ich teilweise kaum kenne, mit Mut, ehrlichem Interesse, Mitgefühl und der Fähigkeit, dafür klare Worte zu finden. Dagegen gibt es einige Bekannte, Kollegen oder Nachbarn, die mir seit Jahren regelmäßig begegnen, mit denen ich jedoch noch nie ein persönliches Wort über Krankheit oder den Todesfall gewechselt habe.
Oft denke ich an den sprachlosen Mann vom TÜV, denn er ist zum einen ein Beispiel für die Sprachlosigkeit unserer Gesellschaft und er hat mir auch vor Augen geführt, wie sehr ich selbst mich verändert habe. Früher hätte ich vermutlich auch nicht gewusst, was ich in einer solchen Situation sagen sollte. Heute weiß ich, wie gut es tut, wenn wir das Schweigen brechen und auf den Trauernden zugehen.
KAPITEL 3 In der Fremde
Nur zusammen ist man weniger allein
Nach dem Bestrahlungstermin am Vormittag bin ich heute bereits zum zweiten Mal auf dem Weg ins Krankenhaus. Ich ziehe die schwere Eingangstür auf und fahre mit dem Aufzug in den zweiten Stock des Altbaus. Wieder einmal nimmt mich der typische Geruch dieser Station gefangen. Die Mischung aus altem Gemäuer, Desinfektionsmitteln und kranken Menschen ist mir unangenehm und wirkt auf mich regelrecht beklemmend. Ich laufe den Flur entlang bis ganz ans Ende. Meine Absätze klappern leise. Ansonsten ist es still. Ein Pfleger biegt um die Ecke. Ich kenne ihn. „Kann ich Sie kurz sprechen?“, fragt er mich. Erstaunt und sofort voller Angst bleibe ich stehen.
„Es