Das Modell. Jan Kuhlbrodt

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Das Modell - Jan Kuhlbrodt

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Warum auch? Es hat so kommen müssen. Dieser Satz, den ich immer wieder hörte, von Freunden und von Verwandten. Es hat so kommen müssen. So und nicht anders, und weil die Geschichte ja bereits fortgeschritten war, ist dieser Satz nicht zu widerlegen. Und der Vorwurf, der leise Vorwurf, der in diesem Satz liegt, oder aber die Resignation, die mitschwingt, wird einem zum ständigen Begleiter.

      Der Uringestank jedenfalls trieb mir die Tränen in die Augen, und ich hielt mir ein Taschentuch fest vor die Nase. Das nützte wenig, also nahm ich immer zwei Stufen auf einmal, als ich in meine Wohnung hinaufrannte, und ich achtete kaum auf die ehemals hellbraune Prägetapete, die die Hausverwaltung vor Jahren im Treppenhaus hatte anbringen lassen, als ihr plötzlich der rohe Putz an den Wänden ein Dorn im Auge gewesen sein musste. Seit ich hier wohnte, war niemand mehr ein- oder ausgezogen, und da keiner größere Möbel über die Treppe gewuchtet hatte, war die Tapete fast unbeschädigt geblieben. Ihr fehlten die Risse und Schrunden, die Tapeten in Mietshäusern und die Rücken wild lebender Elefanten auszeichnen, zumindest die in jenen Häusern, in denen die Bewohner ihre Naturholzbetten und Second-Hand-Küchen selbst in die Wohnungen trugen oder von nahen Angehörigen tragen ließen.

      Nur verblasst war die Tapete, stockfleckig, und garantiert war sie bis in die oberen Etagen vom Geruch des Junkies durchtränkt. In meinen Augenwinkeln trieb sie dahin wie ein Film, den ich schon tausend Mal gesehen hatte und dessen Inhalt über die Jahre zu phosphoreszierenden Farbflecken zerflossen war.

      Ich betrat mein Apartment, wie ich die Wohnung nannte, weil sie mir von einem durchtriebenen Makler so vorgestellt worden war, ein Ausdruck, den ich vorher nur aus amerikanischen Filmen kannte. Ich hatte mich immer gefragt, was ein, mein Apartment von einer wirklichen Wohnung unterschied. Wahrscheinlich dass es keinen Flur gab. Vorsaal, wie meine Verwandten den Flur nannten, noch den kleinsten fensterlosen Raum nannten sie so, weil er eine Flurgarderobe hatte. Mein Apartment hatte einen Flur, der nur einer Person Platz bot.

      Die Türen mussten geöffnet bleiben, wenn man sich darin den Mantel an- oder auszog, und sie mussten geschlossen werden, um den Mantel an den Haken zu hängen, der sich hinter der Tür zum Wohnbereich befand. Und wenn Kerstin bei mir war, wenn wir gemeinsam kamen, traten wir einzeln durch diesen Flur, wie durch eine Dekontaminierungsschleuse.

      Ich betrat also mein Apartment und stutzte. Ein mir vollkommen unbekannter Geruch lag in den Räumen. Etwas Öliges, etwas Rußiges hatte sich festgesetzt und den Duft der Zwiebeln verdrängt, der sich sonst vom Rauchabzug der Küche her ausbreitete, und an den ich mich über die Jahre gewöhnt hatte.

      Natürlich war niemand hier, aber ein Fenster war zu Bruch gegangen. Ein Stein hatte es zerschlagen und lag nun faustgroß mitten auf dem mausgrauen Teppichboden, zwischen all den Rotwein- und Wasserflecken, die sich dort versammelt hatten. Mich fröstelte, und für einen Moment hatte ich den Eindruck, mitten auf der Straße zu stehen. In der Ferne verklangen Sprechchöre, und meine Arme kamen mir wie untergehakt vor.

      Polizei, SA, SS. Deutsche Polizisten, Mörder und Faschisten. Nie, nie, nie wieder Deutschland. Unwillkürlich begann ich ein Lied zu singen, dessen Melodie den Sprechchören unterlegt war und dessen einfacher Text mich immer gerührt hatte. … unter den Menschen und unter den Tiern. Es war das Paradies. Der Traum ist …

      Der Stein hatte keinen großen Schaden angerichtet, nur das Modell, das mir Thilo auf dem Rhein-Main-Airport zum Abschied geschenkt hatte und das seitdem auf meinem Schreibtisch stand, um mich an irgendeine Aufgabe zu erinnern, die ich lange vergessen hatte, war zu Boden gegangen, aber natürlich nicht zu Bruch. Es schien sich sogar langsam vorwärts zu schieben, in unmerklichen Bewegungen schob es sich auf dem Teppichboden auf den Tisch zu.

      Unter meinen Füßen knirschte es, als ich hinging. Ich betrachtete das Modell lange, drehte es in meiner Hand, sah, wie sich das Licht in ihm brach, ich betrachtete es, als sei es gerade einem Attentat entgangen. Ich wiegte es ein wenig und hoffte, dass es nicht die Pflanzen des Freundes waren, an die es mich erinnern sollte. Aber wer wandert schon aus und lässt einen Gummibaum zurück? Ich selbst hatte meiner Mutter einen alten Fahrradrahmen hinterlassen, der ihr den Keller versperrte.

      Eine Hinterlassenschaft ohne Sinn. Die Wohnung meiner Mutter war inzwischen fernbeheizt, und auch sonst hatte sie keinerlei Grund, über meinen Fahrradrahmen hinweg in den Keller zu steigen. Ihre Wohnung hatten wir noch entrümpelt, bevor ich wegging, und außer diesem Rahmen der Firma Wanderer alles weggeworfen, was nicht mehr gebraucht wurde.

      Ich sammelte meine Notizblätter ein, die der Wind vom Schreibtisch geweht hatte und die nun überall im Zimmer verstreut lagen, und schichtete sie zu einem kleinen Stapel. Dabei versuchte ich mehrmals vergeblich, sie ordentlich auf Kante zu legen. Das Papier riss am Rand, wenn ich damit auf die Schreibtischplatte klopfte, es war einfach zu alt.

      Schließlich legte ich die Blätter, so wie sie waren, neben den Computer. Ein unansehnliches Häuflein vergilbtes Papier. Dem Impuls, es in den Papierkorb zu stopfen, folgte ich nicht, das habe ich später erledigt. Vorerst benutzte ich das Modell als eine Art Briefbeschwerer.

      4.

      Die Erinnerung lässt mir die Ereignisse plastisch werden. Ich sehe, wie ich stolpere, sehe, wie Thilos Skulptur kippt, und möchte plötzlich laut ausrufen, dass Thilo, den ich in Gedanken vor mir habe, aufpassen soll. Doch dieser Satz bleibt mir noch immer im Halse stecken.

      Wenn ich also etwas bei meiner Mutter zurückgelassen habe, dann war es die Vorstellung von mir als Freund Thilos.

      5.

      Er ist von Frankfurt aus nach Amerika geflogen, und meine Mutter dachte, wir sind geflogen. Beide. Und würden uns alles ruinieren in diesem fernen, fernen Land, wo die Amis lebten und Indianer unterdrückten, ungesunden Tabak rauchten und in einem fort Whisky tranken. Thilo und ich. Und im Stillen wird sie gedacht haben, Thilo hätte mir das alles eingebrockt.

      Sicher hat sie mit vorwurfsvollem Gesicht hin und wieder vor der Tür von Thilos Eltern gestanden. Wenn sie aber geklingelt hätte und Thilos Vater hätte geöffnet, sie hätte nicht gewusst, was sie sagen sollte, und ihr Vorwurf wäre einer stillen Trauer gewichen. Sie hätte am Küchentisch einen Kaffee getrunken und eine Weile mit Thilos Eltern geschwiegen. Thilos Eltern, die, an die Arbeitsplatte gelehnt, meine Mutter beobachteten, während sie auf einem Küchenstuhl aus Aluminium und Sprelacart saß.

      6.

      Ich habe Versuche unternommen, Mutter zu schreiben, ich habe versucht, mich zu erklären, mein Fortbleiben zu erklären, habe extra Briefpapier gekauft, von dem ich vermutete, es könnte meiner Mutter gefallen. Eierschalenfarbenes Papier und eierschalenfarbene Umschläge. Oben rechts in den Bögen war ein Wasserzeichen. Eine schreibende Hand, deren Abbildung sich auch auf dem Futter der Kuverts fand.

      Ich erinnerte mich daran, dass meine Mutter, wenn sie ein Geschenk suchte und ihr keines einfiel, immer in einem Schreibwarenladen in der Hauptstraße, die Straße der Nationen heißt, ein Briefpapier kaufte. Auch mir hat sie einmal welches geschenkt. Fliederfarben mit Wasserzeichen. Ich habe es nie benutzt.

      Unzählige Briefanfänge hat es gegeben. Liebe Mutter, Mutter, Meine liebe Mutter, Mutti.

      Und Thilo war in Amerika. Kein Anfang!

      Was hätte ich meiner Mutter also schreiben sollen? Ich schreibe Dir, weil ich Dir nichts zu berichten weiß, das noch Bestand hätte, wenn mein Brief Dich erreicht. Hier ist es so und so. Wenn ich aus meinem Fenster schaue, sehe ich Häuser, ganz wie zu Hause. Deutsche Häuser, etwas höher allerdings. Und auch hier trinkt man Whisky und raucht texanische Zigaretten.

      Thilo sitzt irgendwo in Amerika, auch zwischen Häusern wahrscheinlich.

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