Schattenkinder. Marcel Bauer

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Schattenkinder - Marcel Bauer

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die die Gesprächspartner lieber für sich behalten oder zumindest gerne vertraulich behandelt gesehen hätten. Er würde sich kleine Notizen anfertigen. Die sollten ihm helfen, eines Tages seine eigene Biografie zu schreiben.

      Im Laufe des dritten Schuljahres wurde Joshua mit der großen Geschichte seiner neuen Heimat vertraut gemacht. Er erfuhr, dass »die Belgier die tapfersten aller Gallier sind«. Das hatte schon Julius Cäsar erkannt, als er den Stamm die Eburonen und ihren Anführer Ambiorix, der einen großen Aufstand gegen die Römer angezettelt hatte, geschlagen hatte. Joshua kannte diesen Ambiorix, denn er war auf dem Karton eines Markenschuhs abgebildet, den Onkel Nathan in seinem Lädchen verkaufte.

      Nachdem die Römer irgendwann verschwunden und die Franken gekommen waren, wurde Kaiser Karl der Große geboren. Das war ganz in ihrer Nähe von Lüttich in Herstal passiert. Leider gab es dort keine Spuren mehr von Charlemagne, vermutlich weil an seiner Geburtsstätte nun ein Hochofen stand.

      Im Jahre 1099 zog Gottfried von Bouillon in den Ersten Kreuzzug. Nach der Eroberung der Heiligen Stadt wurde er von den Kreuzrittern wegen seiner Tapferkeit zum König von Jerusalem ausgerufen, lehnte aber die Königswürde ab. Nach der Schlacht der Goldenen Sporen im Jahre 1302, als ein belgisches Bauernheer die Blüte der französischen Ritterschaft niedermachte, ging es im Unterricht im Galopp weiter durch vier bis fünf Jahrhunderte, wobei unklar blieb, was die wechselnden fremden Landesherren in Belgien eigentlich verloren hatten.

      Im Jahr 1830 erkämpften die Belgier sich ihre Unabhängigkeit von den Holländern. Unter König Leopold II. eroberten sie im Herzen Afrikas ein Kolonialreich, das 80-mal größer als das Mutterland war. Die angeborene Tapferkeit der Belgier hatte die Welt zuletzt 1914 in Staunen versetzt, als ihre Armee sich hinter gebrochenen Deichen verschanzte und diesen Flecken Vaterland vier Jahre lang heldenhaft verteidigte. Joshua war stolz darauf, Belgier zu sein.

      Daheim verbrachten Joshua und Roro viele Stunden vor dem Rundfunkempfänger. Es gab zwei Höhepunkte im Wochenprogramm. Mittwochs gab es ein Hörspiel, das sich bis spät in die Nacht hinzog, was öfter zu Streit mit der Mutter führte, die darauf achtete, dass die Jungen rechtzeitig ins Bett kamen. Joshuas Lieblingssendung waren aber die »Schönen Stimmen« an jedem zweiten Freitag. Wenn Joshua das Radio lauter stellte, um besser zu hören, gab es Ärger mit den anderen Familienmitgliedern, weil die sich gestört fühlten.

      Danach versuchte Joshua die eine oder andere Arie nachzusingen. Am ehesten war das auf der Toilette möglich, weil man da ungestört war. Eines Tages ertappte ihn ein Aufseher auf dem Schulhof dabei, wie er einige Takte aus dem Sklavenchor von Verdi schmetterte, was ihm unter den Klassenkameraden den Nimbus eines »polnischen Caruso« einbrachte.

      Während ihre Eltern sich schwer taten mit der fremden Sprache und der neuen Umgebung, fanden Mendel und Joshua rasch Anschluss. Sie freundeten sich mit den Kindern in der Nachbarschaft an, beteiligten sich an allerlei Kinderstreichen. Einer bestand darin, Laubfrösche einzufangen, sie in trockenes Gras oder Gestrüpp zu setzen, dieses anzuzünden und nachzusehen, wer von ihnen überlebt hatte. Ein anderes Spiel bestand daraus, junge Katzen einzufangen und sie in einen Sack zu stecken, den sie in die Maas warfen, um zu sehen, wie lange sie im Wasserstrudel um ihr Leben kämpfen würden.

      Als Joshua davon erzählte, war der Hase empört, denn Frösche und Katzen waren in seiner frühen Kindheit, die er im Schaufenster eines Spielwarengeschäfts verbracht hatte, seine liebsten Spielkameraden gewesen. Er sagte, er schäme sich für Joshua, dass er sich an solchen Schandtaten beteilige und es würde ihn nicht wundern, wenn er eines Tages auch ihn aufspießen und an einem Lagerfeuer braten würde.

      Nach dieser heftigen Auseinandersetzung beschloss Joshua, Roro nur noch solche Sachen zu erzählen, von denen er annahm, dass sie ihm gefallen würden.

      Auf der Straße herrschte ein rauer Umgangston. Die Jungen beschimpften sich gegenseitig als Korinthenkacker oder Fliegenfotze. Mit jedem neuen Schimpfwort, das sie lernten, verschafften sich die Rozenbergs unter Ihresgleichen etwas mehr Respekt. Ein beliebter Zeitvertreib war das Schwarzfahren mit der Straßenbahn. Die Jungen mischten sich an den Haltestellen unter die Wartenden oder sie sprangen auf die Trittbretter auf, wenn die Tram in einer Kurve ihr Tempo drosseln musste. Joshua und Mendel liebten es, wenn es bergab und in die Kurven ging und der Fahrtwind ihnen um die Ohren pfiff. Einige Schaffner ließen sie gewähren, aber andere drohten ihnen die schlimmsten Strafen an.

      In Stoßzeiten, wenn die Stahlkocher und Bergleute von der Schicht nach Hause fuhren, fielen sie im Gedränge weniger auf. Die Proletarier saßen eng zusammen im hinteren Teil der Straßenbahn, während im vorderen gegen einen Aufpreis die Damen und Herren der besseren Gesellschaft Platz nahmen. Hinten roch es nach Schweiß und Rauch, weil ununterbrochen geraucht und auf den Boden gerotzt wurde, obwohl das verboten war. Einmal schenkte ein Schaffner ihnen das schwarze Kartenbrett, als es leer war und alle Fahrscheine abgerissen waren. Solche Bretter waren auf dem Schulhof sehr begehrt und wurden hoch gehandelt.

      Ohne dass die Eltern es ahnten, schlossen Mendel und Joshua sich einer Kinderbande an. In jedem Viertel von Seraing gab es eine solche Gang. In ihrem Viertel waren es die Sioux. Die Sioux trieben sich meistens auf dem Gelände einer stillgelegten Ziegelei herum. Dort hatten sie ihr Hauptquartier, Pow-Wow genannt.

      Der Anführer, ein bulliger Typ, nannte sich Donnernder Büffel und war wegen seiner Brutalität gefürchtet. Er war Herr über Leben und Tod. Wer sich gegen ihn auflehnte, der wurde aus dem Stamm ausgestoßen. Das Gesetz der Sioux verlangte, dass der Häuptling seine überragende Stellung jedes Jahr aufs Neue durch einen Boxkampf behauptete. Doch dieses Ritual wurde nicht mehr praktiziert, denn nachdem einige Jungen dabei ordentlich Prügel bezogen hatten, wagte keiner mehr, gegen den Dicken anzutreten.

      Um in den Stamm der Sioux aufgenommen zu werden, musste Joshua eine Mutprobe bestehen. Sie bestand darin, dass er in einem Krämerladen um die Ecke etwas stehlen sollte, was mindestens zwei Franken kostete. Eine gefährliche Operation. Nachdem er die Prüfung bestanden hatte, musste er dem Donnernden Büffel Gehorsam und seinen Blutsbrüdern ewige Treue schwören. Dazu musste er sich mit der Faust auf die Brust klopfen und »ugh, ugh« rufen und danach, ohne einen Muckser von sich zu geben, ertragen, wie der Medizinmann ihm mit einem Messer in den Unterarm schnitt, bis das Blut triefte. Das Blut wurde in einem Becher aufgefangen, mit Wasser vermischt und allen zum Trunk gereicht. Damit war Joshua in den Stamm aufgenommen. Von nun an durfte er sich »Kleine Sturmwolke« nennen.

      Von allen Straßengangs in Srää waren die Comanchen die berüchtigtsten. Da ihr Revier genau auf Mendels und Joshuas Schulweg lag, mussten sie öfter Umwege machen, aus Furcht, unterwegs ihren Erzfeinden zu begegnen.

      Die Jugendbanden veranstalteten manchmal Wettkämpfe, um die Rangordnung zu bestimmen. Zu verabredeter Zeit bewarfen sie sich je nach Jahreszeit mit Kieselsteinen, Kartoffeln oder Kastanien, bis der Sieger feststand und der Unterlegene um Gnade bat. Voller Stolz zeigte Joshua Roro die Blessuren, die er bei solchen Schlachten davongetragen hatte.

      Die unterlegene Gang musste den Siegern eine Geisel stellen, die an einen Marterpfahl gefesselt und so lange mit scharf gespitzten Stöckchen gepikst wurde, bis sie um Gnade winselte. Nach einer verlorenen Schlacht wurde Mendel vom Donnernden Büffel als Geisel bestimmt. Das wurde ihm nachher hoch angerechnet, denn er stieg in der Hackordnung des Stammes gleich um mehrere Ränge auf.

      Weniger ruhmreich war seine Heimkehr. Als er in übler Verfassung und mit zerrissener Hose zu Hause auftauchte und keine plausible Erklärung abgeben konnte, verabreichte ihm der Vater zur Strafe eine zusätzliche Tracht Prügel.

      * * *

      Dank der Dokumente, die Rozenberg aus Polen mitgebracht hatte und die er von einem vereidigten Dolmetscher hatte übersetzen und beglaubigen lassen, erhielt er die Anerkennung als Schlachter durch die Lütticher Metzgerinnung. Nathan Goldstein trat wiederum als Bürge auf. Ein feierlicher Augenblick

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