Schattenkinder. Marcel Bauer

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Schattenkinder - Marcel Bauer

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die polnische Regierung alle Juden, die mehr als fünf Jahre außer Landes waren, aus. Damit wollte sie verhindern, dass nach Deutschland ausgewanderte Juden nach Polen zurückkehrten. Umgekehrt beschlossen die Nazis, alle »Ostjuden« auszuweisen. Tausende Juden steckten im deutsch-polnischen Niemandsland bei Bentschen fest. Als Joshua den Namen der Grenzstation hörte, erinnerte er sich daran, dass er dort gewesen war.

      Das Unglück nahm seinen Lauf, als ein jüdischer Heißsporn aus Rache für die Abschiebung seiner Eltern einen deutschen Botschaftssekretär in Paris erschoss. Für die Nazis war das ein willkommener Anlass, einen lang geplanten Pogrom anzuzetteln. Die Hatikwah, eine jiddische Wochenzeitung, auf die Rozenberg abonniert war, berichtete ausführlich über die Gräueltaten der Swastikas. Es brachte viele Fotos von brennenden Synagogen und geplünderten Geschäften, die in der jüdischen Diaspora Angst und Schrecken verbreiteten.

      Nach der sogenannten Reichskristallnacht ergossen sich wahre Flüchtlingsströme über Westeuropa. Diese führten notgedrungen über Belgien. Viele Juden blieben wegen der Einreisebeschränkungen, die die Nachbarländer erließen, in Belgien hängen. Innerhalb von fünf Jahren wuchs ihre Zahl von 6.000 auf 65.000 an. 1939 waren es nach Schätzungen des Innenministeriums 116.000.

      Durch den massiven Zustrom von Juden kam es in Belgien zu einer kurzen Blüte jüdischen Lebens, aber auch zu ersten Fällen von Antisemitismus. Da die meisten Flüchtlinge sich illegal im Lande aufhielten und nicht auf eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung hoffen konnten, tauchten sie unter und bauten eine Schattenwirtschaft auf. Sie eröffneten kleine Geschäfte, waren Hutmacher, Schuster oder Schneider. Dadurch wurden sie zu Konkurrenten des eingesessenen Mittelstandes, der ohnehin unter der Wirtschaftskrise zu leiden hatte.

      Das sorgte für böses Blut. Orientalische Juden, die als Hausierer und Messerschleifer von Tür zu Tür zogen, erregten durch Kleidung und Auftreten Aufsehen und Widerwillen. Einigen Zeitungen zufolge hegten die Juden finstere Pläne, um den belgischen Staat zu unterwandern. Am rechten Rand entstanden Parteien, die den Unmut schürten. Diesen bekamen alle Israeliten zu spüren, auch jene, die wie Nathan Goldstein die belgische Staatsbürgerschaft besaßen.

      Um des Flüchtlingsandranges Herr zu werden, sah sich die Regierung genötigt, Internierungslager einzurichten: eines im Kempenland, ein anderes in den Ardennen. Außerdem bemühte sie sich, die deutsch-belgische Grenze hermetisch abzuriegeln. An die Stelle der biederen Zöllner traten nun kasernierte Gendarmen ihren Dienst an. Sie hatten Befehl, unerbittlich Jagd auf illegale Grenzgänger zu machen.

      Um Flüchtlinge abzuschrecken, setzte die Regierung tausend abgefangene Juden in einen Sonderzug und schob sie über die Grenze nach Aachen ab. Die Presse berichtete in großer Aufmachung darüber. In den Synagogen munkelte man schon, Deutsche und Belgier steckten unter einer Decke, denn der belgische Geheimdienst dürfe mit Duldung der Nationalsozialisten im Rheinland Fluchthilfeorganisationen ausspähen und unterwandern.

      Ein Umschwung in der öffentlichen Meinung erfolgte kurzfristig, als die belgische Regierung zweihundertfünfzig jüdische Kinder abschieben ließ. Angesichts landesweiter Proteste sah sich der Innenminister gezwungen, siebenhundertfünfzig unbegleiteten Kindern die Einreise zu erlauben. Die Pressebilder von der Ankunft der aus Deutschland abgeschobenen Kinder in Herbesthal, dem ersten belgischen Bahnhof, gingen um die Welt. Sie zeigten weinende, fröstelnde Kinder, die im ehemaligen Fürstenzimmer aus der Kaiserzeit von Mitarbeitern des Roten Kreuzes versorgt wurden.

      In den nächsten Wochen sollten noch sechzehn weitere Kindertransporte aus Köln nach Belgien kommen. Im ganzen Land löste das Schicksal dieser Kinder eine Welle der Hilfsbereitschaft aus. In den Synagogen wurden die Gläubigen aufgerufen, den Zehnten, der eigentlich zum Unterhalt der Leviten vorgesehen war, für die Vertriebenen zu spenden. Wie viele andere verbrachte auch Elsa Rozenberg viele Stunden damit, Winterkleidung für Flüchtlingskinder zu nähen.

      Im Cheder lernte Joshua eines dieser Kinder kennen. Peter Weis stammte aus Berlin und lebte nun in einer belgischen Pflegefamilie. Er war ein stiller Junge, der meist schweigsam in einer Ecke saß, weil er weder Französisch, Polnisch oder Jiddisch sondern nur Deutsch sprach.

      Trotz dieser Welle der Solidarität belastete der Zustrom der Flüchtlinge das innenpolitische Klima. Unmerklich schlichen sich judenfeindliche Maßnahmen in die Gesetzgebung ein. Als das Ehepaar Rozenberg 1939 wie gewohnt beim Einwohnermeldeamt ihre Ausweise einreichte, um sie zu verlängern, wurden diese mit einem roten »J« abgestempelt. Der Beamte behauptete, das geschehe nur auf Wunsch der Schweizer Behörden, die genau wissen wollten, wer aus Belgien in ihr Land einreisen wolle.

      Rozenberg registrierte die Maßnahme mit großem Unbehagen: Sein Leben lang hatte er sich bemüht, nicht aufzufallen, und nun knallte man ihm seine jüdische Herkunft wie ein Brandzeichen auf ein amtliches Dokument.

      * * *

      In dieser aufgeheizten Stimmung geschah etwas, womit niemand gerechnet hatte: Eines Tages tauchten Gerda Meyer und ihre Tochter Hedwig in der Rue du Buisson auf. Die Familien hatten zwar brieflich Kontakt gehalten, aber in Seraing hatte man keine Ahnung, dass die Meyers sich mit Fluchtgedanken trugen. Die Frauen waren unversehrt über die belgische Grenze gelangt. Die Freude über das Wiedersehen wurde getrübt durch die Sorge um den Konsul, der es vorgezogen hatte, sich von Frau und Tochter zu trennen, um es auf eigene Faust zu versuchen.

      Nachdem sie sich etwas erholt hatten, fanden sie in der Wohnküche einen reich gedeckten Tisch vor. Mutter Rozenberg hatte das beste Stück Kalbfleisch aus der Ladentheke, der Vater eine Flasche von dem französischen Landwein aus dem Keller hervorgeholt, die eigentlich für die anstehende Bar Mizwa36 Mendels vorgesehen war. Gerda Meyer berichtete, ihr Mann habe sich zur Flucht entschlossen, als man seinen Reisepass eingezogen und diesen durch eine Kennkarte ersetzt habe, der mit einem Judenstern abgestempelt war. Seinen Vornamen Siegmund hatte man mit Israel ergänzt, weil es sich für einen Juden angeblich nicht geziemte, einen arischen Rufnamen zu haben.

      Ihr Mann habe die Zustände in Deutschland nicht mehr ertragen. Statt Recht und Ordnung, wie er sie verstand, hätten überall Willkür und blinde Gewalt geherrscht. Zunächst habe er an eine legale Auswanderung gedacht. Vermögende Juden konnten gegen ein hohes Lösegeld die Ausreise nach Palästina erkaufen, aber ihr Mann habe keine Lust verspürt, als Kameltreiber zu enden, wie er es abfällig formulierte. Eine andere Möglichkeit, das Land legal zu verlassen, hätte darin bestanden, mit einem Bananendampfer in die Karibik zu verschwinden. Für jede Schiffspassage hätte er 40.000 RM in ausländischen Devisen hinblättern müssen, wovon der deutsche Staat fünfzig Prozent einbehalten hätte. »Reichsfluchtsteuer« heiße das. Außerdem hätten die Nazis bei einer Auswanderung ihr gesamtes Vermögen beschlagnahmt.

      Frau Meyer sagte, die Nacht vom 9. auf den 10. November sei zum Fanal geworden. Allen Juden im Reich hätten die blutigen Ausschreitungen vor Augen geführt, dass sie in Deutschland keine Daseinsberechtigung mehr hatten.

      Am Vorabend des Pogroms habe ein städtischer Beamter, den ihr Mann aus besseren Tagen kannte, ihn gewarnt: Die Polizei habe Weisung erhalten, im Rahmen eines spontanen Volkszorns sämtliche Juden zu verhaften, zu entwaffnen und bei Widerstand über den Haufen zu schießen. Am nächsten Morgen hätten sie das Haus nicht verlassen und von ihrem Fenster beobachten können, wie SA-Männer eine größere Gruppe Juden vor sich hergetrieben habe. Die SA-Standarte habe ein Mann getragen, dem ihr Mann einst eine Anstellung in seiner Firma besorgt hatte. Auf den Bürgersteigen gafften teilnahmslos Passanten, während Kinder die Juden schmähten, ohne zurechtgewiesen zu werden.

      Nachher erfuhren sie, dass die Juden ins Alte Gymnasium getrieben worden waren, wo Konsul Meyer sein Abitur gemacht hatte. Von dort seien sie ins KZ Sachsenhausen gebracht worden. Nicht nur in Bremen, auch in den Vororten hätten die Nazis gewütet. In Hastedt hätten sie den Vorsteher der jüdischen Gemeinde gezwungen, in seinen liturgischen Gewändern mit den Thorarollen auf den Schultern singend durch die Hauptstraße zu ziehen. Die Ältesten

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