Der Masanao Adler. Dieter R. Fuchs

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Der Masanao Adler - Dieter R. Fuchs

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auf eine aus Reisig und Fellen gebaute Schwitzhütte am Ufer eines weiten, still daliegenden Sees inmitten seltsam bläulich schimmernder und tief verschneiter Wälder. Aus einem kleinen Luftauslass in der Decke der Hütte stiegen Rauch und feuchte, sofort zu Eisnebel kondensierende Luft auf. Ein Zeichen, dass gerade jemand die spirituelle Reinigungszeremonie mit heißem Dampf und glimmenden Kräutern und Pilzen darin vollzog.

      Nun kroch ein Mensch unter einem langsam zur Seite geschobenen Fellstück hervor und richtete seinen schweißglänzenden, tätowierten Körper auf, mit weit geöffneten Armen die eisige Luft begrüßend. Es war ein etwa dreißigjähriger Indianer, nur mit einem Lendenschurz bekleidet, an dessen Gürtel ein Jagdmesser und ein ledernes Behältnis hingen. Er murmelte mit weiterhin ausgestreckten Armen und zum Himmel gerichtetem Blick eine Weile lang gutturale rituelle Worte. Im, auf der berauschenden Wirkung der Pilze beruhenden, Trancezustand war er in den letzten zwei Stunden wie auf Adlerflügeln in fremde Welten und Zeiten gereist.

      Die seltsame Gestalt setzte sich – ungeachtet der Witterung – auf den Boden und breitete zwischen überkreuzten Beinen den Inhalt eines Medizinbeutels aus. Es waren mehrere Holzstückchen und heilige Steine, eine Hasenpfote sowie eine kleine Figur, die anscheinend aus einem Knochen oder Tierzahn geschnitzt war und einen Adler mit einem Beutetier in seinen Fängen darstellte. Nachdem er ehrfürchtig vor allem dieses Totem-Objekt betrachtet und seine Gedanken darin versenkt hatte, verbarg er alles wieder in dem mit Adlerflaum und Tabakblättern ausgepolsterten Beutel. Der Indianer beendete das Treffen mit seinem Geistwesen, indem er es noch dreimal mit »A-wa-hi-li« anrief. Er zog die Beinkleider und den Jagdrock an, die auf einem Ast hingen, griff seinen Bogen sowie den Köcher mit den im heiligen Rauch gereinigten Pfeilen und schritt von neuer Kraft erfüllt ins dichte Unterholz des Waldes. So wie der Indianer verschwand, löste sich augenblicklich die Szenerie auf bis sie gänzlich verblasste. Im Unterbewusstsein des Träumenden verblieb nur noch eine große Leere …

      Der alte Mann im Ohrensessel wachte auf und öffnete langsam und noch schlaftrunken die Augen. In seinen Mundwinkeln war Speichel festgetrocknet, aber er bemerkte es nicht. Genauso wenig wie er den säuerlich scharfen Geruch in seinem verwahrlosten Haus wahrnahm. Im Halbdunkel des kleinen, mit Unmengen Gerümpel vollgestellten Wohnzimmers humpelte er auf unsicheren Beinen zu einer Seitenwand, an der ein Setzkasten – gefüllt mit asiatischen Schnitzereien – hing. Mit zittriger, ausgezehrter Hand und dennoch schlafwandlerischer Sicherheit nahm er eine dieser kleinen Figuren heraus und hielt sie ganz nah vor seine schwachen Augen. Der Alte hatte keinerlei Erinnerung mehr an die gerade geträumte Geschichte. Dennoch lächelte er zärtlich, fast ehrfürchtig die kleine Adler-Schnitzerei an, die ihn so viele Jahre begleitet hatte.

      Nichts wünschte er sich sehnlicher in diesem Moment, als noch einmal auf die große, fantastische Reise zu gehen, auf die ihn dieses kleine Objekt einst geleitet hatte.

      Von einem Augenblick zum anderen glitt sein Verstand wieder ab und er verfiel in dumpfes Nachdenken, was er heute noch tun wollte. Er wusste es nicht mehr.

       Verwirrende Befunde

      Vierundzwanzig Jahre nach dieser Szene in Unterfranken entwickelten weit entfernt, in Peking, manche damit eng verknüpften Vorgänge eine neue Dynamik. Bis tief unter die Erdoberfläche, wie ein gigantisches, an einen riesigen Ameisenhaufen erinnerndes Labyrinth aus Gängen, Schächten und Räumlichkeiten, breitete sich eine seltsame, von der restlichen Welt abgeschottete unterirdische Wissenschaftsstadt aus. Hier und in den darüber liegenden Gebäuden gingen tausende Wissenschaftler ihrer ganz auf die Forschung und den Erhalt des menschlichen kulturellen Erbes konzentrierten Beschäftigung nach.

      Genau zu dieser Zeit spielte plötzlich derselbe kleine Elfenbein-Adler wieder eine zentrale Rolle, der einst den alten Mann bei Würzburg so bewegt hatte.

      »Marco, das ist total irre - das musst du dir ansehen! Ich flipp aus!«

      Es kam atemlos von den Lippen der quirligen, seltsam schrill gekleideten und geschminkten, jungen Japanerin. Sie wirkte im nüchternen Ambiente des grau-in-grau möblierten, fensterlosen Raumes so fremd wie ein schillernder Kolibri, der sich hierher verflogen hatte. Dieser hübsche bunte Vogel stand in ziemlichem Kontrast zu dem älteren Herrn in seinem biederen Tweed-Sakko, der sich nun mit seinem Schreibtischstuhl zu ihr herumschwenkte.

      Tomomi Kasai bot einen Anblick, der keinem der zahllosen Modetrends zuzuordnen war, denen man im Jahr 2036 begegnen konnte. Sie hatte ihren persönlichen Style schon als Teenie in einem uralten Jugendjournal entdeckt und sich entgegen allen damals geltenden Normen dafür entschieden und seither beibehalten.

      Sie war eine ›Ganguro‹, also übersetzt ein ›Schwarzgesicht‹. In der hippen Szene von Shibuya, dem Vergnügungsviertel von Tokyo mit seinen vielen Clubs, Karaoke-Schuppen und Love-Hotels, hatten in den 1990er Jahren junge Mädchen auf der Suche nach einem verrückten und auffallenden Outfit diesen Look erfunden. Sie bräunten mit verschiedensten Mitteln ihre Haut dunkel, legten ein kontraststarkes weißes Augenmakeup auf, trugen pechschwarze überlange künstliche Wimpern, dazu hellen, pastellfarbenen Lippenstift. Die langen Haare färbten sie sich orange- oder wasserstoffblond, oft mit pinkfarbenen Strähnen. Kombiniert mit farblich passenden, schrillen Shirts und Hütchen, superkurzen Miniröcken und üppigem Modeschmuck schufen sie so einen Trend, der sich etliche Jahre in der Subkultur Japans halten konnte.

      Die Ganguro hatten etwas schockierend Dämonisches an sich, erinnerten die Älteren sogar an junge Shintō-Priesterinnen in ihrer Andersartigkeit. Einige von ihnen mit besonders grellem Make-up nannten sich selbst auch ›Yama-uba‹, also ›Berghexen‹ und empfanden sich als ganz in der Tradition alter Überlieferungen stehend. Nur eben modern!

      Jetzt, fast ein halbes Jahrhundert später, wirkte die vierundzwanzigjährige Tomomi in dieser Aufmachung ebenfalls reichlich exotisch, wohl noch provozierender ›individuell‹ als die Girlies damals, was sie aber keineswegs störte. Im Gegenteil! Sie genoss es, anders zu sein und deutlich zu machen, dass sie nichts von altbackenen Konventionen hielt. Die Zeiten des Konformismus gehörten auch für Japanerinnen schon lange der Vergangenheit an. Außerdem hatte sie im Alter von vierzehn Jahren Mangas mit mythologischem Hintergrund geradezu verschlungen und fühlte sich dieser schönen Fantasiewelt durch ihr Äußeres irgendwie nah.

      Doktor Marco Renke, der jetzt wie immer wohlwollend und sogar etwas bewundernd seine jüngste Mitarbeiterin anlächelte, hatte von Anfang an das exzentrische Äußere dieser hoch begabten und absolut zuverlässigen jungen Wissenschaftlerin als etwas Positives, für eine starke Persönlichkeit Sprechendes gesehen.

      Nach ihrer ersten Begegnung und seiner spontanen Begeisterung hatte er sich damals zunächst gefragt, ob so etwas wie ein Zauber von der Japanerin auf ihn eingewirkt habe. Doch rasch wischte er diesen Gedanken zur Seite und war sich sicher, dass ihn alleine die Intelligenz und angenehme Persönlichkeit beeindruckt hatten. Er erinnerte sich, damals bei diesem Gedanken gelacht zu haben. Denn welcher Unterschied bestünde wohl zwischen einer ›magischen Ausstrahlung‹ und einer ›gewinnenden Persönlichkeit‹, wenn man es genau nahm! Egal: Die positive Einschätzung hatte sich in jeder Hinsicht bestätigt, seit sie in sein Team gekommen war. Tomomi entwickelte sich zu einer wichtigen Stütze im aktuellen Forschungsprojekt und strahlte trotz ihrer Jugend professionelle Souveränität aus. Umso irritierter war er über diesen leicht hysterischen Auftritt.

      Tomomis Körpersprache drückte beim Betreten des Büros ihres Chefs den aufgewühlten Gefühlszustand aus, in dem sie sich seit zwei Stunden befand. Außerdem hatte sie den recht weiten Weg von ihrem Apartment im Hochhaus bis zum unterirdischen Bürotrakt in ziemlicher Eile zurückgelegt. Sie war nicht nur vor Aufregung, sondern auch vom raschen Laufen außer Atem. Der Gebäudekomplex der United Nations Treasury and Archives of Cultural Heritage in Peking, kurz UNTACH genannt, nahm ein sehr weitläufiges Areal ein. Diese zentrale Kulturgüterbehörde und Kunstschatzkammer der Vereinten Nationen war wie eine kleine, eigene Stadt innerhalb des Häusermeers

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