Der Masanao Adler. Dieter R. Fuchs

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Der Masanao Adler - Dieter R. Fuchs

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Logik momentan überforderte und ihren Forscherdrang anspornte.

      Marco und Tomomi gingen langsam durch den weitläufigen Büroraum zur in der Wand eingebauten Panzerglasvitrine und blickten, wie schon so oft, fasziniert auf das Objekt ihrer Untersuchungen. Dort stand unter Schutzglas, bei definierter Luftfeuchte und Temperatur sowie durch spezielle LED-Lampen ins rechte Licht gesetzt, eine etwa fünf Zentimeter große Schnitzerei aus Elfenbein. Die Figur stellte in ausgewogenen Proportionen, detailgenau und künstlerisch ausdrucksstark einen sitzenden Adler mit angelegten Schwingen dar, der einen kleinen Affen als Beute in seinen Fängen umklammert hielt.

      Es handelte sich um ein japanisches Netsuke, also einen vollplastisch geschnitzten Gürtelknebel mit zwei Schnurlöchern zur Befestigung kleinerer Gegenstände am Obi, dem breiten Gürtel des Kimonos. Im Japan des siebzehnten bis neunzehnten Jahrhunderts waren diese kleinen Gürtelschmuckstücke, meistens aus Elfenbein, Hirschhorn oder Holz gefertigt, weit verbreitet. Sie dienten in erster Linie dem praktischen Zweck, Utensilien wie Pillendose, Pfeifenset oder Schreibzeug mittels einer Seidenschnur sicher und dennoch leicht abnehmbar am Obi festzuklemmen, denn die damals übliche Kleidung der Männer hatte keine Taschen. Darüber hinaus boten Netsuke auf elegante Weise die Möglichkeit, den Kunstsinn und Wohlstand des Trägers dezent zur Schau zu stellen. Später hatten sich diese Schnitzereien, insbesondere in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, weltweit zu beliebten Sammlerobjekten entwickelt. Künstlerisch hochwertige, nachweislich von prominenten Schnitzern stammende Netsuke erzielten ab Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts auf Kunstauktionen und im internationalen Antiquitätenhandel enorme Preise. Gute Stücke konnten einen Marktwert von mehreren zehntausend bis zu dreihunderttausend Euro erreichen.

      Dass es sich bei diesem Netsuke hier um ein Spitzenstück handelte, davon konnten die beiden Forscher zweifelsfrei ausgehen. Das belegte ein vor fünf Jahren hausintern durch die Japonika-Experten des UNTACH angefertigtes Gutachten. Bei jeder Neueinlieferung war eine solche Bewertung durch ein Team fachkundiger Kunsthistoriker ein Routinevorgang. In dieser Expertise wurde die an der Unterseite des Netsuke markant eingeschnitzte Signatur ›Masanao‹ als authentisch bewertet. Als Schöpfer war also jener Meisterschnitzer belegt, der im achtzehnten Jahrhundert in Kyoto wirkte und in Standardwerken über Netsuke als einer der künstlerisch herausragenden Meister seiner Zeit galt.

      Es gab noch weitere Belege für die außergewöhnliche Qualität dieses Netsuke, die aus wissenschaftlicher Sicht gleichermaßen hoch zu bewerten waren. So existierte eine alte, auf Dezember 1989 datierte Einschätzung eines deutschen Auktionshauses in Köln. Dessen Experten waren auf Asiatika spezialisiert und seit zwei Generationen in der Fachszene als eine der höchsten Instanzen bei der Bewertung dieser Gürtelknebel bekannt. Außerdem fand sich die Abbildung und Dokumentation exakt dieses Netsuke in einem anerkannten Standardwerk über japanische Kleinkunst aus dem Jahr 2018. Die Identität des Stücks war hierin zusätzlich optisch abgesichert durch mehrere stark vergrößerte Detailaufnahmen der Signatur ›Masanao‹ sowie weiterer charakteristischer Schnitzdetails. Es war unzweifelhaft genau dieses Netsuke, das im Original vor ihnen lag, sie beide in den vergangenen Wochen so intensiv in ihren Bann gezogen hatte und in den kommenden Monaten weiter beschäftigen würde.

      Als Tomomi, wie immer seltsam gebannt und fasziniert beim Anblick der Schnitzerei, schon wieder ein seltsames Kribbeln am Körper spürte, wurde der kleine Adler in ihren Gedanken regelrecht lebendig, so sehr berührte seine Aura ihre Fantasie. Im Innersten glaubte die Japanerin fast zu hören, wie es aus der Vitrine in sie drang und säuselte: ›So löst doch endlich mein Rätsel und gebt mir meinen Frieden zurück.‹

      Tomomi riss sich zusammen, rief ihre Gedanken wieder zu logischer Ordnung und war sich bewusst, dass es eigentlich nicht nur das Netsuke selbst war, das ihnen so große Rätsel aufgab. Es war vielmehr auch der Inhalt jener seltsamen Schatulle, die zu diesem Netsuke zu gehören schien und von der Marco Renke immer recht geheimnisvoll sprach.

      Die junge Chemikerin hatte nur ein einziges Mal einen Blick auf diese ungewöhnliche Beigabe werfen können, denn ihr Chef hielt diese stets in dem kleinen Tresorraum verschlossen, der an sein Büro angrenzte. Sie erinnerte sich aber gut an die mit Schnitzereien verzierte Holzschatulle von der Größe eines Pilotenkoffers. Diese öffnete sich mittig und die beiden dann zugänglichen Hälften ließen sich ein weiteres Mal nach außen aufklappen, sodass vier gleich große flache Behältnisse nebeneinander vor dem Betrachter lagen, durch kunstvolle Messingscharniere miteinander verbunden. Diese einzelnen Abteile waren jeweils weiter untergliedert, teilweise in Dokumentenfächer, teilweise in mit Samt ausgepolsterte Behältnisse und Futterale, manche mit Deckeln oder Befestigungen versehen.

      Der Koffer schien nur teilweise gefüllt zu sein mit Schriftstücken und kleinen Objekten. Zumindest soweit sie es damals sehen konnte, als ihr Marco einen kurzen Blick auf seine ›Schatztruhe‹ gönnte, wie er ihn ironisch nannte. Er hatte Tomomi bei dieser Gelegenheit auf zwei Details des Inhalts näher hingewiesen, bevor er die Schatulle wieder zusammenklappte und wegschloss: Auf ein Dokument, das er einem der flacheren Fächer entnahm und ihr vor die Augen hielt, sowie auf eine im Koffermittelteil integrierte Miniaturvitrine, die aus dickem, glasklarem Kunststoff bestand. Im Zentrum dieses kleinen aufklappbaren Quaders war eine exakte Negativform des Adler-Netsuke zu erkennen, ausgekleidet mit einer dünnen, weichen Silikonschicht. Dies stellte einen sicheren und maßgefertigten Aufbewahrungsort für das kleine Prachtstück dar.

      »Nun hast du auch das Original gesehen – nicht, dass du glaubst, ich will dich zum Narren halten.«

      Er hatte es damals mit einem Schmunzeln gesagt, aber sein Blick drückte etwas anderes aus. Es ging ihm ernsthaft darum, sie ins Vertrauen zu ziehen und sicherzustellen, dass sie sich der Seriosität ihrer gemeinsamen Nachforschungen trotz derart skurriler Umstände bewusst war.

      Den Text auf dem handgeschriebenen, leicht vergilbten Dokument kannte sie bereits aus einem Scan, den ihr Marco einige Tage zuvor spät abends überraschend zum Lesen gemailt hatte. Normalerweise belästigte er seine Mitarbeiter nicht in ihrer Freizeit, so gut kannte sie ihn schon. Sein Begleittext in der Mail lautete damals: ›Was hältst du von diesem netten Stück Prosa? Viel Spaß bei der Lektüre, ich freu' mich auf dein Feedback in den nächsten Tagen.‹

      Sie hatte den Text sofort gelesen, anfangs eher verwundert und amüsiert, dann plötzlich alarmiert und schließlich hellwach. In der folgenden Stunde studierte sie die wenigen Seiten dann intensiv und hinterfragte einzelne Aussagen darin mittels diverser Internet-Recherchen. Zunächst erschien es ihr völlig abwegig, dass diese Kurzgeschichte tatsächlich einen realen Bezug zur Herkunft des Elfenbeins haben sollte, aus dem Masanao dieses Netsuke geschaffen hatte. Aber wenn sie die rein logische Bewertung der Sachlage ignorierte, räumte sie intuitiv ein, dass an dieser Geschichte vielleicht doch etwas dran sein könnte. Irgendeine Verbindung musste es geben, schließlich hatte jemand jene Schatulle anfertigen lassen, um genau diese Schnitzerei zusammen mit genau diesen Schriftstücken, unter anderem dem Dokument mit der Überschrift ›Tod in Afrika‹ als eine Einheit aufzubewahren.

      Die merkwürdige Erzählung war Tomomi, während sie mit Marco schweigsam vor der Wandvitrine stand, wieder sehr präsent. Es kam ihr fast beängstigend vor, dass der Inhalt dieses Dokuments mit der Datumsangabe ›Fünfter Mai 1986‹ so perfekt mit ihren neuesten Forschungsergebnissen übereinstimmte. Damals beim ersten Lesen hatte sie sich anfangs ein süffisantes Schmunzeln aufgrund des etwas schwülstigen Schreibstils und der blumigen Darstellung nicht verkneifen können. Das Ende allerdings ernüchterte sie und der letzte Satz wirkte wie ein kleiner Schock.

       Tod in Afrika

      Er strotzte vor Kraft und strahlte Gelassenheit und Zielstrebigkeit aus, als er den durch Felsen verengten Eingang des ausgetrockneten Flussbetts passierte. Aber sein Leben sollte hier bald ein Ende finden.

      Die Herde, in der er vor vielen Jahrzehnten aufgewachsen war, hatte ihn bereits im Alter von acht Jahren verstoßen, also lange vor der für die

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