Blütenträume. Robert Krieg
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Etwas war heute anders als sonst. Etwas Unbeschreibliches lag in der Luft. Die Menschen strömten mit schnellen Schritten aus allen Winkeln und Vororten Leipzigs Richtung Innenstadt. Sie sprachen nicht viel, in ihren aufmerksamen Gesichtern lag ein Ausdruck großer Entschlossenheit. Dieter ließ sich einfach mittreiben. Er war viel zu neugierig, um sich entgehen zu lassen, was der Grund für diesen Aufmarsch war. Menschenansammlungen gehörten zu seinen frühesten Kindheitserinnerungen in Königsberg. Damals standen sie an, in endloser Reihe an einer der letzten intakten Wasserzapfstellen in den Straßen der Stadt, die ein sinnloser Durchhaltebefehl aus dem Berliner Reichsführer-Bunker dem Erdboden gleich gemacht hatte. Nie wieder würde er die trostlosen Gesichter vergessen, zerlumpte, staubbedeckte Gestalten, die sich aus den Umrissen der Ruinen lösten. Doch heute war alles anders. Die Menschen zeigten helle Mienen, ihr Blick war erwartungsvoll nach vorn gerichtet.
Auf dem Karl-Marx-Platz hatte sich eine unübersehbare Menge versammelt. Nichts glich den sonst üblichen Aufmärschen, den 1.-Mai-Feiern mit geschmückter Tribüne, schwitzenden Festtagsrednern in schlecht sitzenden Anzügen und Abordnungen der Parteijugend in blauen Blusen. Rufe wurden laut, die ersten Sprechchöre wurden skandiert. Dieter drängte sich zwischen den Beinen so weit wie möglich nach vorn. Plötzlich packte ihn eine tellergroße Faust.
»Du siehst ja nischt, Kleiner«, dröhnte eine bärbeißige Stimme von oben herab. Ohne seine Antwort abzuwarten, wurde er emporgerissen und mit Hilfe weiterer kräftiger Arme auf die ochsenbreiten Schultern des Zimmermanns verfrachtet.
»Die da zwei Reihen vor uns, die mit den roten und schwarz-roten Fahnen, das ist meine Brigade«, rief er dem Jungen fröhlich zu. Dieter betrachtete ausgiebig die Männer in ihren schwarzen Samtwesten, aus denen bauschige weiße Hemdsärmel hervorlugten. Sie schwenkten ihre breitkrempigen Hüte und riefen »Alle Macht den Arbeitern!«, »Freie Gewerkschaften!« und »Weg mit der Ein-Parteien-Diktatur«. Das war ihr Festtag und sie hatten sich dazu ihre beste Zunftkleidung angelegt.
»Jetzt werden wir den Parteibonzen mal richtig einheizen. Wurde höchste Zeit«, lachte der Bär unter ihm. Der kleine Schulz ließ sich von der rebellischen Stimmung mitreißen, die über den weiten Platz wehte.
»Wir wollen freie Wahlen!«, skandierte er mit der Menge und streckte dabei seine kleine Faust in den wolkenlosen Himmel.
Vorn entstand ein Tumult. Schwerbewaffnete Vopos stürmten urplötzlich aus einem Gebäude, das unmittelbar am Platz lag, ergriffen einen Wortführer, der mit Megafon die Stimmung angeheizt hatte, und zogen sich mit ihm trotz seiner heftigen Gegenwehr blitzschnell wieder zurück. Die Nachricht von der Verhaftung des beliebten Arbeitersprechers, der für seine unabhängige Meinung bekannt war, verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Die heitere, ja fast volksfestähnliche Stimmung schlug um. Die Menge drängte nach vorn, Empörung machte sich breit, es flogen Pflastersteine und die ersten Fensterscheiben klirrten. Jemand zündete eine Brandfackel an und warf sie auf das Gebäude. Sie verglühte rasch, ohne Schaden anzurichten.
»Waffen weg, Waffen weg!«, ertönte jetzt ein neuer Ruf und setzte sich immer lauter durch alle Reihen fort.
»Was ist passiert?«, fragte Dieter. Der muskulöse Arm seines mächtigen Beschützers wies auf das mehrstöckige Haus, aus dessen oberen Geschoss Gewehrläufe blitzten.
In die Nebenstraßen, die auf den Platz mündeten, kam Bewegung. LKWs fuhren heran, und von den offenen Ladeflächen sprangen Rotarmisten, auf ihre Gewehre waren Bajonette aufgepflanzt. Innerhalb weniger Minuten war der gesamte Platz umzingelt. Rotarmisten Schulter an Schulter, drei Reihen tief gestaffelt, versperrten jeden Fluchtweg. Der kleine Schulz erschrak zutiefst, als er zu verstehen begann, was sich da zusammenbraute. Von seiner erhöhten Position aus konnte er alles beobachten.
»Da sind die Russen!«, schrie er dem Zimmermann ins Ohr und zeigte in die am nächsten gelegene Nebenstraße.
»Du spinnst Kleiner«, kam es ungläubig zurück.
»Doch, doch, ich seh’ genau ihre Bajonette!«
Der Hüne packte ihn an der Taille und setzte ihn vorsichtig auf das Pflaster. Dann reckte er sich, um besser sehen zu können.
»Du hast recht«, rief er. »Ah diese Schweine, unsere Beschützer, dass ich nicht lache!« Instinktiv griff er schützend nach dem Nacken des Kindes. Vergeblich, der Junge war schon auf und davon. Flink presste er sich durch die dicht an dicht gedrängten Menschenleiber. Er war von einem Gedanken beseelt. Er musste den russischen Offizier warnen, den er in der nahen Seitenstraße entdeckt hatte. Er war sich sicher: Das war der gleiche, der ihn in den Zirkus mitgenommen hatte.
»Ich muss mit ihm sprechen, ihm erklären, was die Leute hier wollen. Er versteht das nicht, er kann kein Deutsch. Die Bullen erzählen Lügenmärchen über uns. Ich werde ihm sagen, welche netten Leute ich gerade getroffen habe, die Zimmerleute, Bauarbeiter, alles tolle Kumpel! Die haben doch recht, wenn sie ›alle Macht den Arbeitern‹ schreien. – Schon wieder tanzt alles nach der Pfeife von Parteibonzen! Hat doch auch die Mutter erst vor kurzem gesagt. Er wird mich verstehen und seine Leute abziehen!« Seine dreizehnjährige Jungenseele brannte darauf, Schlimmes zu verhüten. Die Gedanken überschlugen sich in seinem Kopf, während er sich durch die Menge wühlte und hier und da einen wütenden Hieb versetzt bekam.
Dann hatte er es geschafft und stand den russischen Soldaten direkt gegenüber. Vergeblich versuchte er in ihren Gesichtern zu lesen. Er konnte sie kaum voneinander unterscheiden. So gleichförmig machten sie der Helm, die Uniform, die entsicherte Waffe. Was ging in ihnen vor, würden sie tatsächlich auf ihn schießen, wenn sie den Befehl dazu erhielten? Er wusste es nicht. Vergeblich versuche er den Offizier zu finden, der war verschwunden.
»He, wir sind doch Freunde, von uns ist keiner bewaffnet, auf Freunde schießt man nicht!«, rief er den Soldaten auf Russisch zu. Vergeblich. Sie taten, als ob sie ihn nicht hörten. Ein scharfer Befehl ertönte. Wie von Geisterhand öffnete sich jetzt eine Gasse zwischen den Soldaten. Hervor trat ein feister Vopo-Offizier, über dessen steifem Uniformkragen ein Speckwulst hing. Er setzte ein Megafon an die Lippen, die er vorher mit seiner Zunge befeuchtete: »Diese Versammlung ist illegal und volksverhetzend. Sie verstößt gegen die Gesetze der Deutschen Demokratischen Republik. Sie ist ab sofort verboten. Jeder, der sich diesem Verbot widersetzt, ist ein Volksschädling und wird verhaftet. Jetzt einer nach dem anderen vortreten und dann den Platz verlassen«, schnarrte das Megafon. Das war das erbärmliche Ende eines Junitages, der so hoffnungsvoll begonnen hatte.
Das Unglück wollte es, dass sich Dieter beim Verlassen des Platzes plötzlich zwischen den Männern befand, aus deren Reihen die Steine geflogen waren. Kaum hatte er das Spalier der Rotarmisten passiert und wollte gerade losrennen, als ihn eine harte Hand von hinten am Kragen ergriff.
»Komm’ her, du Früchtchen. Dich kenn’ ich doch! Treibst dich immer am Bahnhof mit dem Gesocks rum«, zischte ein hagerer Vopo. Vergeblich versuchte er sich dessen Griff zu entwinden und dem russischen Offizier etwas zuzuschreien, der plötzlich wieder aufgetaucht war und sich von dem selbstzufrieden blickenden Polizeioffizier eine Zigarette anzünden ließ. Zu spät. Umsonst. Wie zuvor auf dem Platz, aber dieses Mal rücksichtslos, wurde er hochgerissen und auf die offene Ladefläche eines bereitstehenden LKW geworfen. Er