Aldarúun. Valeria Kardos
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Die Tür knallt hinter Irma zu, als sie mit hochrotem Kopf aus Herrn Meinels Büro stolpert. Ihre Hände zittern, während sie sich mit ihren Unterlagen wieder auf ihren Platz setzt. Ich erkenne, wie ihre Augen langsam feucht werden und sie mit ihrem kleinen Finger verstohlen eine Träne wegwischt. Die jähzornigen Ausbrüche unseres Chefs bringen sie selbst nach vielen Jahren noch immer aus der Fassung.
„Der Kerl hat wieder eine Laune, dass die Milch sauer wird“, schnaubt sie wütend und putzt sich die Nase.
Herr Meinel ist der stellvertretende Geschäftsführer des Speditionsunternehmens, in dem ich als Teilzeitkraft angestellt bin. Seine schlechten Launen – und schlecht gelaunt ist er so ziemlich immer – lässt er stets an seinen Mitarbeitern aus. Irma, die ihm direkt unterstellt ist, bekommt oft das meiste ab.
Ich bin Gott sei Dank nur noch ein paar Monate hier. Mein Abitur habe ich vor einem halben Jahr gemacht und ich will meine Ausbildung zur Tierarzthelferin in einer ganz bestimmten Praxis beginnen. Zur Überbrückung der Zeit habe ich die letzten Monate ein wenig gejobbt, was nach der ganzen Lernerei auf die Abi-Klausuren eine Wohltat ist. Es tut gut, abends nach Hause zu kommen und nicht über den Büchern sitzen zu müssen.
Irma schnieft, putzt sich nochmals die Nase und macht sich wieder an die Arbeit. Trotz der täglichen Ausbrüche unseres Chefs kämpft sie tapfer weiter. Ich beobachte sie aus dem Augenwinkel und bewundere sie angesichts ihres Durchhaltevermögens.
Die Tür wird aufgerissen und Stefanie, die zweite Sachbearbeiterin von Herrn Meinel, stürmt aufgeregt herein. Irma und ich drehen uns neugierig zu ihr um, während sie sich mit einem lauten Rums auf einen der Schreibtischstühle fallen lässt. „Es haben sich weitere zwei Fahrer krankgemeldet. Ich habe keine Ahnung, wie ich die nächsten Touren besetzen soll“, sagt sie und schielt verzweifelt in Richtung Meinels Büro. „Der Alte wird mir den Kopf abreißen, obwohl ich gar nichts dafür kann.“
„Ich würde dir den Botengang ja abnehmen, aber ich habe heute meinen Einlauf schon erhalten“, winkt Irma ab. „Einen zweiten stehe ich nicht mehr durch – nicht vor dem Wochenende.“
Nun schauen mich beide erwartungsvoll an. Ich seufze, und noch bevor eine von ihnen den Mund aufmachen kann, schnappe ich mir die Krankmeldungen und sage im Vorbeigehen: „Also, da sollte mindestens ein Cappuccino für mich nächste Woche drin sein.“
„Cappuccino, Kuchen, Eis … was immer du möchtest, Anja“, ruft Stefanie und lächelt erleichtert.
Es hat sich in der Vergangenheit herausgestellt, dass ich irgendwie einen beruhigenden Einfluss auf die Menschen in meinem Umfeld habe. Selbst Choleriker wie Herr Meinel kommen in meiner Gegenwart erstaunlich schnell wieder runter.
„Du hast auf Menschen eine Wirkung wie Valium“, hat mal Ramona, meine beste Freundin, lachend zu mir gesagt. Das habe ich zwar nicht unbedingt als Kompliment aufgefasst, aber es trifft den Kern ziemlich genau. Selbst während meiner Schulzeit wurde ich gern zum Schlichten von Streitereien herangezogen.
Auch meine beiden Kolleginnen haben das sehr schnell erkannt und schicken nur allzu gerne mich in die Höhle des Löwen, wenn der Löwe wieder mal in Fressstimmung ist.
Ich klopfe vorsichtig an seine Tür und warte sein brummiges „Herein!“ ab, bevor ich eintrete. Herr Meinel ist ein Mann um die fünfzig, etwas korpulent und – durch seinen hohen Blutdruck – stets ein wenig rot im Gesicht. Er schaut mich kurz über seinen Brillenrand hinweg an, bevor er sich wieder seinen Unterlagen widmet.
„Was gibt es, Frau Horvath?“, fragt er leicht gereizt wie immer.
Ich trete an seinen Schreibtisch und atme einmal tief durch. „Herr Meinel, ich fürchte, ich habe eine schlechte Nachricht. Zwei weitere Fahrer haben sich heute krankgemeldet. Da scheint ein ganz böser Virus zu …“
„Was?“, schreit er laut auf und wirft dabei seine Brille achtlos auf den Schreibtisch. „Die sind nicht krank, da gehe ich jede Wette mit Ihnen ein!“
Ich lege ihm die Krankmeldungen hin, die er nur mit einem giftigen Blick quittiert.
„Es sind doch immer dieselben, die krank werden, und dann am besten noch vor Feiertagen oder vor dem Wochenende. Ich weiß genau, dass Günter gerade ein Haus baut und viel Zeit braucht. Wahrscheinlich benutzt der auch noch unsere Lkws zum Transportieren. Wenn ich den erwische …“
Ich tue, was ich immer tue, wenn er mit seinen Schimpftiraden beginnt – ich schalte auf Durchzug. So bekomme ich nur mit halbem Ohr mit, wie er alle Angestellten als Schmarotzer bezeichnet, die sich doch nur auf seine Kosten bereichern … bla bla bla.
Dr. Fuchs, nicht mehr lange!, denke ich sehnsüchtig an den liebenswertesten Tierarzt der Welt, der bald mein Chef werden wird.
„… man sollte sie nur noch nach Leistung bezahlen! Man muss da ansetzen, wo es richtig wehtut – am Geldbeutel!“
„Warum nehmen wir nicht einen der neuen Aushilfsfahrer, dafür haben wir sie doch eingestellt?“, unterbreche ich ihn, als sein Gekeife zu mir durchdringt. Ich lächele freundlich und erwarte, dass er gleich wieder lospoltert, aber überraschenderweise bleibt das aus. Sein Atem wird ruhiger und die Ader an seinem Hals schwillt langsam wieder ab. Bisher hatte ich über dieses Phänomen nicht weiter nachgedacht, aber seit ich hier arbeite und Stefanie mal zu mir gesagt hat, ich hätte wieder den Drachen besänftigt, beginne ich das Verhalten meiner Mitmenschen mir gegenüber etwas genauer zu beobachten. Es fällt mir mittlerweile täglich auf, im Supermarkt, während der Arbeit oder im Privatleben – und es scheint sich zu verstärken. Als ich Ramona darauf mal ansprach, sagte sie zu mir, ich solle in den diplomatischen Dienst gehen oder noch besser in den Verkauf. So wie ich die Menschen beeinflussen könne, würde ich schnell ein kleines Vermögen machen.
Herr Meinel reißt mich aus meinen Gedanken. Er drückt mir die Krankmeldungen in die Hand und murmelt, dass Stefanie sich um alles Weitere kümmern soll. Er wendet sich wieder seinen Unterlagen zu, was bedeutet, dass ich gehen kann.
Ich atme auf, als ich die Tür hinter mir schließe und in die erwartungsvollen Gesichter meiner beiden Kolleginnen blicke.
„Und?“, fragen sie mich gleichzeitig.
„Nun, du sollst die Aushilfsfahrer einsetzen“, sage ich grinsend und schaue in ihre verblüfften Gesichter.
„Mehr nicht?“, fragt Stefanie perplex.
„Nein, mehr nicht.“
„Anja, ganz im Ernst, wir werden dich nicht gehen lassen. Ohne dich wird dieser Laden wieder zur Hölle!“, sagt sie und Irma nickt eifrig. Ich mag die beiden wirklich sehr, aber ich werde keine Sekunde länger in dieser Firma bleiben als nötig.
Es piepst aus meiner Handtasche. Ich setze mich wieder an meinen Platz und hole mein Handy heraus. Auf dem Display sehe ich, dass ich eine WhatsApp-Nachricht von Ramona erhalten habe. Meine Laune verbessert sich sekündlich, während ich mich zur Nachricht durchklicke: Heute Abend 19:00 Uhr – Abendessen – Köln – übliches Restaurant – Widerstand ist ZWECKLOS – bis nachher Süße
Wenn Ramona sich etwas in den Kopf gesetzt hat, muss man schon eine Ausrede wie überfahren vom Bus oder entführt von Aliens vorweisen, sonst ist Ärger angesagt. Aber das ist nicht nötig. Ich freue mich auf unser Abendessen. Der richtige Ausklang einer nervigen Arbeitswoche.
Endlich