Politische Philosophie des Gemeinsinns. Oskar Negt

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Politische Philosophie des Gemeinsinns - Oskar Negt

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sehen sie als die gesellschaftliche Grundlage an, von der aus altes Recht wiederherzustellen sei. Damit will diese Form des rationalen Naturrechts paradoxerweise vornaturrechtliche Zustände herstellen. Darin ist ein Moment des Konservativismus miteinbezogen.

      Kants Revolutionsbegriff hingegen bezieht sich nicht auf die Wiederherstellung einer wie auch immer gearteten gestörten Ordnung, sondern auf die Etablierung eines Systems von Vertragsrechten. Grundlage dafür ist der Gesellschaftsvertrag, den die Menschen ursprünglich geschlossen haben, nicht als ein historisches Faktum, sondern als ein mit ihrer Vernunft verbundenes Postulat. Das heißt, die Vertragslehren werden von Kant nicht zurückbezogen auf irgendwelche Verträge, die empirisch geschlossen wurden, sondern es gehört zum Gemeinwesen und zur republikanischen Verfassung dazu, dass hier ein ursprünglicher Gesellschaftsvertrag geschlossen wurde. Damit ist das Naturrecht ein Vertragsnaturrecht, ein rationales Naturrecht, das die Unabhängigkeit der einzelnen Rechtspersonen unterstellt.

      Gehen wir noch etwas weiter in dieser Bestimmung des elementaren objektiven oder naturwüchsigen Charakters. Sie kennen vielleicht jenen Ausspruch, der Marie Antoinette zugeschrieben wird, historisch nicht verbürgt, aber sachlich völlig zutreffend, als sie vor dem Fenster steht und sich mit den abgehalfterten Ministern unterhält. Was sich vor ihren Augen auf der Straße abspielt, ist keine vorübergehende Revolte, sondern eine elementare Revolution, ein Ereignis, gegen das man nichts machen kann. In allen Bestimmungen Kants ist etwas von dieser Unabänderlichkeit enthalten: Man mag dagegen sein und moralisch urteilen, ein wohldenkender Mensch mag sich auch vor einer Wiederholung fürchten, doch diese Sache ist fortan der Erinnerung der Menschheit eingeschrieben und verliert sich genauso wenig wieder aus ihrem Bewusstsein wie eine Naturkatastrophe, es sei denn durch Verdrängung.

      Die Staatsweisheit wird sich also in dem Zustande, worin die Dinge jetzt sind Reformen dem Ideal des öffentlichen Rechts angemessen zur Pflicht machen; Revolutionen aber, wo sie die Natur von selbst herbei führt, nicht zur Beschönigung einer noch größeren Unterdrückung, sondern als Ruf der Natur benutzen, eine auf Freiheitsprinzipien gegründete gesetzliche Verfassung, als die einzige dauerhafte, durch gründliche Reform zu Stande zu bringen.35

      Mit anderen Worten bedeutet das: Wo Revolution stattfindet, kann man nichts machen, weil sie ein »Ruf der Natur ist«. Aber wohldenkende Staatsmänner, die gesehen haben, wie elementar sie sich Bahn bricht, um Vernunft durchzusetzen, werden sich sehr wohl überlegen, ob sie diesen Prozess nicht kompensieren, ausgleichen, ihm gar vorgreifen können, indem sie dasselbe auf dem Wege von Reformen durchsetzen. Wenn sich die Natur auch in Gestalt von revolutionären Bewegungen gegen den Willen der Beteiligten durchsetzt, kann das nur eine Aufforderung dazu sein, sich im aufklärerischen Sinne seines Verstandes zu bedienen, sodass jene Vernunft, die elementar und blutig in der Französischen Revolution durchgesetzt wurde, sich friedlich und mithilfe staatsmännischer Weisheit etabliert. Auf jeden Fall liegt darin für Kant eine Warnung an die europäischen Staatsmänner, sich nicht darauf zu verlassen, dass die Französische Revolution von Jakobinern und einigen Gruppen der französischen Gesellschaft inszeniert worden sei, sondern sie als einen Aufbruch der Natur, ein Zeichensetzen der Natur zu betrachten. Wenn sich Gesellschaften nicht auch in anderen Ländern revolutionär verändern sollen, müssen sie sich durch Reformen verändern. Entsprechend hätte – wie Hegel – auch Kant die Napoleonischen Kriege, wenn er sie noch erlebt hätte, im Sinne der Realisierung dieses Naturzwecks begreifen können, weil sie zerstörte und innerlich ausgehöhlte Systeme mit Gewalt weggefegt und den revolutionären Gedanken auch über die europäischen Fürstentümer gebracht haben. Aber welche Natur bricht sich hier Bahn, um etwas durchzusetzen, was sie selbst nicht ist?

      In der Revolution produziert Natur ihr eigenes Gegenteil, sie produziert eine Verfassung, die Natur beherrscht. Zwei Gesichtspunkte zu diesem Naturbegriff sind dabei wesentlich. So ist der friedliche Zustand der Gesellschaft bei Kant ein unnatürlicher, der mit der Natur des Menschen nichts zu tun hat. Ein friedlicher Gesellschaftszustand muss vielmehr gestiftet werden. Das bedeutet für Kant gleichzeitig, dass die Hobbes’sche Konstruktion eines kriegerischen Zustands zutrifft, des Kampfes aller gegen alle. Er sagt an einer Stelle: »Der Krieg aber selber bedarf keines besonderen Beweisgrundes, sondern scheint auf die menschliche Natur gepfropft zu sein.«36 Der Krieg als Ausdruck natürlicher Kräfte und Bewegungen sitzt der menschlichen Natur auf, jenes Naturerbteils, der ihn auch mit der Natur in der »Kritik der reinen Vernunft« verbindet, nämlich dem Dasein unter Gesetzmäßigkeiten. Mit diesem Erbteil hängt der einzelne Mensch an der Gattungsentwicklung, ist er Natur im Sinne des Nicht-Domestizierten. Es gibt zuweilen in Anlehnung an Friedrich II., den man auch den Großen genannt hat, geradezu eine Geringschätzung Kants gegenüber den Menschen. Friedrich II. hat einmal von dieser verdorbenen und verkommenen Rasse gesprochen, die man domestizieren müsse, damit aus ihr etwas werden könne. Kant ist nicht nur auf dieser Ebene, sondern auch auf jener der theologischen Betrachtung von der Bösartigkeit der menschlichen Natur überzeugt. Aber gleichzeitig schließt sich diese Bösartigkeit mit dem Vernunftvermögen zusammen: Bei ihm hat, wie bei keinem Denker sonst, der Mensch die Möglichkeit, sich nicht nur von dieser Bösartigkeit, sondern gleichzeitig von der Natur selbst zu lösen. Die Vernunft ist das radikal Andere der Natur. Wie Herder gesagt hat, die Sprache und der aufrechte Gang seien die eigentlichen Elemente der menschlichen Natur, sagt nun Kant, was Instinktsteuerung gewesen ist, muss Vernunft werden. Erst dann sei Emanzipation möglich.

      Außer Frage steht, dass der Krieg zum Grundbestandteil der gesamten Gattungsentwicklung gehört. Aber dieser Krieg ist nicht als Naturzweck, sondern nur als Mittel zu denken, um Zwecke durchzusetzen, die mit diesen Mitteln nichts zu tun haben. Mit anderen Worten ist für Kant der Krieg derjenige materielle Zusammenhang, der nicht nur die Menschen zur Vernunft treibt, sondern auch Verkehrsformen und Verkehrsverhältnisse herstellt, Berührungen zwischen den Völkern, wo Grenzen durchbrochen werden. Der Krieg ist auch in seinen ganz fatalen, von Kant verhassten Formen ein Stück Vorbereitung auf den weltbürgerlichen Zustand. Alles Übel kommt von diesem Krieg, doch Kant ist weit genug Bürger, um darauf zu bestehen, dass der Krieg nicht nur zerstörerisch wirke. Vielmehr ist dahinter ein versteckter Plan der Vorsehung zu vermuten, der die Menschen selbst gegen ihren Willen und sogar gegenüber ihren guten Absichten dazu zwingt, eine naturrechtliche Verfassung in die Realität umzusetzen. Unter diesem Gesichtspunkt kommt in der Schrift »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht« (1784) einiges zum Tragen, das eindeutig von Adam Smith (1723–1790) stammt. Kant sagt, diese Auseinandersetzung, dieser Antagonismus der gesellschaftlichen Kräfte, die gesellige Ungeselligkeit oder die ungesellige Geselligkeit, treibe darauf hin, wenn es nicht ein sinnloses Spiel sein soll, dass die Menschen sich einigen müssen im Sinne der Erhaltung ihrer Gattung. Im Übrigen hat Kant das Aussterben der ganzen Gattung nie ausgeschlossen. Hegel hat das nicht für möglich gehalten, weil sonst der absolute Geist selbst ausgestorben wäre, aber für Kant war diese Perspektive einer tellurischen Katastrophe, einer Weltkatastrophe in der Menschengeschichte durchaus denkbar.

      Kant geht, wie erwähnt, davon aus, dass der Mensch bösartig ist, andere verletzt, sich nicht an Regeln hält und so weiter. Daraus ist aber nicht abzuleiten, dass Kant es angesichts der Schöpfung und der Realität als unerheblich ansieht, ob die Menschen zur Vernunft kommen oder nicht. Er argumentiert vielmehr, und darauf hat sich auch Bloch immer wieder bezogen,37 gemessen am Weltall sei der Mensch in seiner ganzen geschichtlichen Entwicklung zwar eine Kleinigkeit. Ihn wegen dieser mediokren Stellung im Naturzusammenhang unverändert zu lassen, sei aber mit Blick auf sein Potenzial eine Verkehrung der Schöpfung.

      Es ist also ein nicht bloß gutgemeinter und in praktischer Absicht empfehlungswürdiger, sondern allen Ungläubigen zum Trotz auch für die strengste Theorie haltbarer Satz: daß das menschliche Geschlecht im Fortschreiten zum Besseren immer gewesen sei, und so fernerhin fortgehen werde, welches, wenn man nicht bloß auf das sieht, was in irgend einem Volk geschehen kann, sondern auch auf die Verbreitung über alle Völker der Erde, die nach und nach daran Teil nehmen dürften, die Aussicht in eine unabsehliche Zeit eröffnet; wofern nicht etwa auf die erste Epoche einer Naturrevolution, die (nach Camper und Blumenbach) bloß das Tier und Pflanzenreich, ehe noch Menschen waren, vergrub, noch eine zweite folgt, welche auch dem Menschengeschlechte

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