Politische Philosophie des Gemeinsinns. Oskar Negt

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Politische Philosophie des Gemeinsinns - Oskar Negt

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ist ein altes aristotelisches Urteil und Vorurteil: Das, was am Allgemeinsten ist, ist das Wahrste; und was Form ist, gilt als Erkenntnis. Es ist festzustellen, dass die großen klassischen Werke »Kritik der reinen Vernunft«, »Kritik der praktischen Vernunft« und »Kritik der Urteilskraft« unter eben diesem Formalisierungszwang der akademischen Existenzweise standen, nur jene Begriffe und Gedanken zuzulassen, die für sich Allgemeinheit beanspruchen können. Die Produkthaftigkeit tritt dabei derart in den Vordergrund, dass jene Prozesse, die zur Formulierung bestimmter Probleme führen, fast vollständig verloren gehen, in die Unterwelt der Fußnoten rutschen oder eben jenen diskriminierten Vorarbeiten und Arbeiten überlassen werden, die es nicht in den Kanon der Philosophie schaffen. Die »Anthropologie« gehört zu diesem Fußnoten-Werk. Im Übrigen wendet Kant diese Fußnotentechnik in der Rechtslehre systematisch an, sodass er im Text nur die allgemeinen Dinge bearbeitet und in den Fußnoten Beispiele liefert. Diese Aufspaltung betrifft das ganze Werk. Ich aber werde gerade diese Marginalien zur Verdeutlichung bestimmter formalisierter Positionen heranziehen, die den Erkenntnisprozess schon gar nicht mehr sichtbar machen. Das gilt insbesondere für die pädagogischen Schriften, für die »Anthropologie« und selbstverständlich für den Nachlass, in dem Vorarbeiten vorliegen, und für weitere kleinere Gelegenheitsschriften.

      Was bedeutet nun das Phänomen der Naturanlagen für die »Anthropologie«, für die Entwicklung der Menschen? Kant identifiziert beim Menschen drei spezifische Anlagen, die geschichtlich entwickelt werden sollen und werden können. Das ist zum einen die technische Anlage, zweitens die pragmatische und drittens die moralische. Diese Anlagen sind mit dem Menschen gesetzt, also Naturanlagen. Die Natur hat hier Vermögen in den Menschen hineingesetzt, von denen sie annimmt, dass sie entwickelt werden können, ja entwickelt werden sollen. Die technische Anlage bezieht sich wesentlich auf den Menschen als Werkzeuge produzierendes Tier, »tool-making animal«, wie es Benjamin Franklin (1706–1790) genannt hat. Kant sagt zur Anthropologie, die sich damit befasst:

      Die Fragen: ob der Mensch ursprünglich zum vierfüßigen Gange […] oder zum zweifüßigen bestimmt sei, – ob der Gibbon, der Orangutan, der Schimpanse u. a. bestimmt sei […]; – ob er ein Frucht- oder (weil er einen häutigen Magen hat) fleischfressendes Tier sei; – ob, da er weder Klauen noch Fangzähne, folglich (ohne Vernunft) keine Waffen hat, er von Natur ein Raub- oder friedliches Tier sei – – die Beantwortung dieser Fragen hat keine Bedenklichkeit. Allenfalls könnte diese noch aufgeworfen werden: ob er von Natur ein geselliges oder einsiedlerisches und nachbarschaft-scheues Tier sei; wovon das letztere wohl das Wahrscheinlichste ist.63

      Diese anthropologische Richtung interessiert Kant nicht so sehr. Er nimmt den Menschen so zur Kenntnis, wie er ist, macht keine Versuche einer teleologischen Naturbetrachtung und fragt also nicht, wofür die Natur Füße und Beine vorgesehen hat. Anders als Lichtenberg, von dem ein überlieferter Witz besagt, die Natur habe es doch so herrlich eingerichtet, gerade da, wo die Katze Augen habe, zwei Löcher im Pelz vorzusehen.64 Die Zweckmäßigkeit der Natur interessiert Kant hier nicht, sondern er stellt wiederholt fest: Der Mensch ist instinktreduziert, er kommt ohne Leitungs- und Steuerungsfunktionen zur Welt und muss irgendwie mit der Umwelt fertig werden. Und Kant sagt weiter, wenn die Natur gewollt hätte, dass er seine Anlagen nicht entfaltet, warum hat sie ihn dann überhaupt erzeugt? Ein so hilfloses Wesen auf die Welt zu setzen, könne nicht im Sinne der Natur gewesen sein, insofern müsse sie gewollt haben, dass er sich entwickelt. Er sagt hier völlig richtig: »Ein erstes Menschenpaar, schon mit völliger Ausbildung, mitten unter Nahrungsmitteln von der Natur hingestellt, wenn ihm nicht zugleich ein Naturinstinkt, der uns doch in unserem jetzigen Naturzustande nicht beiwohnt, zugleich beigegeben worden, läßt sich schwerlich mit der Vorsorge der Natur für die Erhaltung der Art vereinigen.«65

      Es findet sich bei Kant die Idee einer bergenden, vorsorgenden Natur, was an mutterrechtliche Vorstellungen erinnert. Die Natur ist etwas, was nicht nur im rationalen Verstande liegt, und sie macht nichts völlig Falsches. Das irgendwo etwas nicht klar erkennbar ist, mag sein, aber die Natur hat nichts Betrügerisches in sich, sondern eher etwas Bergendes. Sie nimmt die Menschen auf und pflegt sie, gibt ihnen Hinweise, setzt ihnen Zeichen: Die Natur entbirgt sich, vergegenständlicht sich für den Menschen in Zeichen. Ob es Revolutionen, Kriege oder Zwistigkeiten sind, die gesellige Ungeselligkeit – all das sind Zeichen der Natur, ohne die die Vorsorge nicht gewährleistet wäre.

      Der erste Mensch würde im ersten Teich, den er vor sich sähe, ertrinken; denn Schwimmen ist schon eine Kunst, die man lernen muß; oder er würde giftige Wurzeln und Früchte genießen und dadurch umzukommen in beständiger Gefahr sein. Hatte aber die Natur dem ersten Menschenpaar diesen Instinkt eingepflanzt, wie war es möglich, daß er ihn nicht an seine Kinder vererbte; welches doch jetzt nie geschieht?66

      Für Kant ist die körperliche Organisation gewissermaßen der organische Teil jenes Gebrauchs der Vernunft, der es ihm ermöglicht, sich selbst zu erhalten. Die technische Anlage ist schlicht jene Anlage zur Erzeugung von Mitteln für die Selbsterhaltung auf physischer Ebene. Die pragmatische Anlage wiederum erläutert er wie folgt: »Die pragmatische Anlage der Zivilisierung durch Kultur, vornehmlich der Umgangseigenschaften und der natürliche Hang seiner Art, im gesellschaftlichen Verhältnisse aus der Rohigkeit der bloßen Selbstgewalt herauszugehen und ein gesittetes (wenn gleich noch nicht sittliches), zur Eintracht bestimmtes Wesen zu werden, ist nun eine höhere Stufe.«67 Hierzu gehören Zucht, Disziplin, Erziehung, Geselligkeit und so weiter: »so daß sich das menschliche Geschlecht nur durch Fortschreiten, in einer Reihe unabsehlich vieler Generationen, zu seiner Bestimmung empor arbeiten kann«68.

      Die pragmatische Naturanlage zeigt hier also jenseits der elementaren Grundausstattung des Menschen mit verlängerten Organwerkzeugen wie Händen und Fingern, die ihm die Selbsterhaltung erlauben, eine bestimmte Stufe der Zivilisierung, mithin der Entfaltung seiner Naturanlagen.

      Die dritte Naturanlage, die moralische, ist für ihn die problematischste und wichtigste. Sie läuft in alter theologischer Form auf die Frage hinaus, »ob der Mensch von Natur gut, oder von Natur böse«69 sei. Kant ist der Auffassung, er sei von Natur schlecht, und lehnt sich darin ganz an Friedrich II. an, den er auch immer wieder zitiert. Man könnte darin natürlich ein theologisches, protestantisches Relikt bei Kant erblicken, doch dem möchte ich widersprechen. Das ist vielmehr die Auffassung der Friedrichanischen Aufklärung, die anders als die Französische Revolution keine rousseauistischen Elemente aufweist, sondern an der Zwiespältigkeit der menschlichen Natur festhält und sagt, der Mensch sei grundschlecht. Man könne sich auf ihn nicht verlassen, und wenn er einmal moralisch handelt, dann mit Sicherheit aus unmoralischen Gründen:

      Friedrich II. fragte einmal den vortrefflichen Sulzer, den er nach Verdiensten schätzte und dem er die Direktion der Schulanstalten in Schlesien aufgetragen hatte, wie es damit ginge. Sulzer antwortete: ›Seitdem daß man auf dem Grundsatz (des Rousseau), daß der Mensch von Natur gut sei, fortgebauet hat, fängt es an besser zu gehen.‹ ›Ah (sagte der König), mon cher Sulzer, vous ne connaissez pas assez cette maudite race à laquelle nous appartenons.‹70

      Ganz offensichtlich geht die Friedrichanische Aufklärung vom Hang zum Bösen aus und hält gerade deshalb Vernunft und Aufklärung für die einzigen Mittel, um aus dieser Dunkelheit herauszukommen. Diese Aufklärung geht nicht wie Rousseau von der Fortsetzung von Natureigenschaften in dem Sinne aus, dass der gute wilde Mensch für seine Entfaltung einfach gesellschaftlich fortgesetzt wird, sondern umgekehrt: Die Welt ist verlassen, destruktiv, und wir müssen mit äußerster Disziplin und Anstrengung dem Menschen Korsettstangen einsetzen, damit er stehen kann. Diese Korsettstangen sind Produkte von Vernunft, Disziplin, Allgemeinheit und so weiter. Die Vernunft ist hier das Gerüst, an dem sich die menschliche Natur festmachen kann, um nicht völlig kaputtzugehen.

      Die Frage ist hier: ob der Mensch von Natur gut, oder von Natur böse, oder von Natur gleich für eines oder das andere empfänglich sei; nachdem er in diese oder jene ihn bildende Hände fällt (cereus in vitium flecti etc.). Im letztern Falle würde die Gattung selbst keinen Charakter haben. – Aber dieser Fall widerspricht

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