Politische Philosophie des Gemeinsinns. Oskar Negt
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Was ich über Marx denke, verstehe ich, als eine nicht-akademische Marx-Rezeption, für die ich meine geringen Mittel einzusetzen versuche. Aber natürlich bin ich darauf angewiesen, dass es dafür Räume gibt, und die stellt uns der bürgerliche Staat zur Verfügung. Das ist keine Selbstverständlichkeit: Es gibt Gesellschaften, in denen das nicht möglich ist. Eine bestimmte Stufe der Aneignung von Theorie kann politisch nachhaltiger und sehr viel sinnvoller sein, als das ständige unterbrechen von Theoriediskussionen durch irgendwelche Ad-hoc-Veranstaltungen. Ad-hoc-Aktionen sind das, was die bürgerliche Öffentlichkeit haben will, um zu berichten, dass irgendwo immer irgendetwas passiert. Aber das kann nicht unsere Politik sein. Auch die Erklärung von Daniel Cohn-Bendit, den ich sehr schätze, weil er bisher große politische Sensibilität bewiesen hat, man müsse sich jetzt hinter die RAF scharren, ist absoluter Blödsinn. Die Zeiten der mechanischen Solidarisierung sind schlicht vorbei.
Moralität, Politik und Anarchismus
Vorlesung vom 15. November 1974
Ich möchte zunächst an unsere RAF-Diskussion anschließen, die ich zugegebenermaßen etwas erregt geführt habe, wodurch ich nicht zuletzt mich selbst blockiert habe. Ich glaube auch, dass die Argumente, die ich brachte, zwar nicht falsch, aber zum Teil etwas abstrakt waren, weshalb ich hier einmal den Zusammenhang zur Kantinterpretation herstellen möchte. Vor leichtfertigen Analogien und Parallelitäten muss ich dabei allerdings ausdrücklich warnen.
Es geht mir darum, einige Linien der deutschen Geistesgeschichte aufzuzeigen, Linien, die sich natürlich nicht nur in den Köpfen der betreffenden Theoretiker abgespielt haben, sondern die Ausdrucksformen eines bedeutenden Teils der deutschen Geschichte gewesen sind und zwar bis heute. Auch wenn der Versuch, etwas wie die Thematik konkreter politischer Gewalt auf der Ebene philosophischer Theorie zu rekonstruieren, zunächst etwas zweifelhaft sein mag, möchte ich hier zwei Linien verfolgen, die von brennender Aktualität sind: Zum einen möchte ich am Beispiel Kants und Hegels etwas über das Verhältnis von Moralität und Politik sagen. Zum anderen möchte ich mich dem Anarchismus zuwenden, weil mir inzwischen meine Aussage, die RAF sei anarchistisch, zum Teil unzutreffend erscheint.
Zunächst möchte ich daran erinnern, was wir im Zusammenhang mit der Französischen Revolution gesehen haben, dass nämlich für Kant die Revolution ein Umwälzungsprozess ohne materielles Subjekt ist. Er will die Umwälzung und ihre Folgen, und er will die Veränderung der Denkungsart als eine innerliche Form der Umwälzung, aber die materiellen Voraussetzungen dieser Umwälzungen möchte er nicht. Deshalb sagt er, die Revolution sei ein Fanal, ein Geschichtszeichen, an dem man sich orientieren könne und das man in Innerlichkeit umsetzen müsse, denn nur dann habe es revolutionäre Folgen. Die Revolution einfach auf der objektiven Ebene zu belassen, sei unmöglich, man müsse dieses Fanal, diesen Hinweis der Natur auf eine moralische Anlage der Menschen, so auffassen, dass gewissermaßen der Einzelne angesprochen und aufgefordert ist, sich selbst zu verändern. Wie es bei Rilke in »Archaïscher Torso Apollos« heißt: »Du musst dein Leben ändern«87 – eine Forderung insbesondere des deutschen Bildungsbürgertums.
Dieses Geschichtszeichen ist zwar nichts Realitätsloses, hat es doch ein empirisches Ereignis zum Ursprung, aber es ist in seiner Komplexität und Vermitteltheit nicht fassbar. Geschichtszeichen oder Hinweise der Natur sind etwas Anschaubares, etwas Sichtbares, etwas Wirkendes, auch kausal Wirkendes, aber eben gleichsam mit dem Verbot versehen, sich der gesamten materiellen Vermitteltheit der Vorgänge, die für dieses Geschichtszeichen stehen, zu bemächtigen. Das heißt, es ist der Versuch der Depotenzierung materieller Vorgänge. Revolution spielt sich im Geiste ab, und nur das führt langfristig zu einer wirklichen Veränderung der Verhältnisse. Revolution ist damit eine moralische Angelegenheit und nicht bloß eine Angelegenheit der Veränderung von Besitzverhältnissen oder des Umsturzes von Regierungen und so weiter. All das mag zwar damit verbunden sein, ist aber nicht die Substanz, nicht die Hauptsache von revolutionären Veränderungen.
Hier zeigt sich deutlich eine spezifische Bildungstradition: Was in Deutschland Geist hieß, ist buchstäblich nicht zu übersetzen, weder in die englische noch in die französische Sprache. Natürlich ist Geist nicht esprit und auch nicht reason. Herbert Marcuse (1898–1979) hat einmal bitter darüber geklagt, man könne in Amerika keine Übung über die »Phänomenologie des Geistes« abhalten, weil dieser Geistbegriff schlicht nicht übersetzbar sei. Schon der Werktitel bedeute eine unüberwindbare Barriere, vom Inhalt ganz zu schweigen.
Geist enthält in den Traditionen, die ich hier anspreche, noch die Totalität der Welt und der Gesellschaft und ist noch nicht vollständig verinnerlicht. Er wird, wie auch Georg Lukács meint, erst im Stadium der parasitären Innerlichkeit, nämlich im Spätkapitalismus, zu einer totalen Innerlichkeit und Verinnerlichung. Hier, wenigstens bei Hegel, breitet sich das, was Geist heißt, noch in der realen Geschichte aus. Aber ein Strukturelement ist schon bei Kant gesetzt und wiederholt sich dann in der gesamten deutschen Philosophie und Bildungstradition: dass nämlich eigentliche, geschichtlich wirksame Politik auf Bildung beruht und ein Problem der Moral sei. Das ist eine spezifische Moralisierung von Politik, und Sie kennen die entsprechenden Beispiele des 20. Juli, wo die Moralität und was damit zusammenhängt, praktisch alle politischen Probleme aufgezehrt hat, um die es dabei ging.
Die Moralisierung der Politik oder exakter ausgedrückt, die Transposition des Politischen in den Alltag, in zwischen Individuen sich abspielende gesellschaftliche Verhältnisse, in die Objektivität von moralischen Forderungen hat Kant in einem Anhang zu »Zum ewigen Frieden« thematisiert, in dem er sich über die Misshelligkeit zwischen Politik und Moral äußert. Dort heißt es, objektiv bestehe zwar kein Widerspruch zwischen Moral und Politik, subjektiv müsse er aber bestehen, weil der Widerspruch der »Wetzstein der Tugend«88 sei. Das heißt, diese Misshelligkeiten zwischen Moral und Politik bestehen objektiv nicht. Die Politik ist nämlich – und die Moral auf einer anderen Ebene genauso – für Kant angewandte Rechtslehre und damit eigentlich umgesetzte Vernunft. So lassen sich also gewisse politische Klugheitslehren verbinden, doch das macht noch nicht diesen etwas pathetisch gefassten Begriff der Politik als Umsetzung von allgemeinen Rechtsgesetzen in Realität aus. Es stellt sich hier vielmehr die Frage, inwieweit ein Zusammenhang zwischen dem Versuch, den revolutionären Prozess als einen objektiven, zwangsläufigen ohne handelndes Subjekt zu begreifen, und dieser Form von Einschmelzung von Moralität und Politik besteht.
Zunächst ist festzustellen, dass diese empirische Depotenzierung des Politikbegriffs auch damit zu tun hat, dass das als Souverän definierte Volk in der Tat nicht verbunden ist mit dem Begriff der Politik und des Politischen, sondern mit dem Begriff des Räsonnements. Kant bezieht sich dabei auf Friedrich II., der gesagt hat, das Volk könne nicht nur räsonieren, es solle sogar räsonieren, aber es solle auch gehorchen. Das ist preußische Aufklärung. Aus politischem Räsonnement ergibt sich aber keine Verbindlichkeit und auch nichts Allgemeines. Was Allgemeines ist, kommt demnach in der Politik immer von oben und ist selbst schon Ausdruck von Gesetzmäßigkeit, ein Allgemeines, das umgesetzt wird. Es ist ein äußerliches Allgemeines im Unterschied zur Moralität, dem innerlichen Allgemeinen.
Ich möchte diese Tendenz zur Verinnerlichung, die in der deutschen Geistesgeschichte als Prozess zu belegen ist, an der Dialektik entfalten, die sich bei Hegel auf einer bestimmten Stufe der Moralität als einer noch nicht zur Sittlichkeit gereiften Beziehung zwischen Individuen abspielt. Moralität erkennt Hegel als eine Form des abstrakten Geistes wie auch des abstrakten Rechts. Diese Begrifflichkeit, die Hegel in der »Phänomenologie des Geistes« im Kapitel »Der sich entfremdete Geist«