Politische Philosophie des Gemeinsinns. Oskar Negt

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Politische Philosophie des Gemeinsinns - Oskar Negt

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Aber wer die Gesetze machen darf, ist nicht nur für die preußische Entwicklungsgeschichte, sondern für das Bürgertum insgesamt immer schwierig gewesen, zumal der Begriff des Volkes in bestimmten Perioden mit dem Pöbel und pauperisierenden Elementen verbunden war.

       Diskussion um die RAF

       Vorlesung vom 14. November 1974

       Zu Beginn dieser Veranstaltung, die ursprünglich erneut vom zwiespältigen Begriff des Volkes handeln sollte, fand auf Wunsch der Hörer zunächst eine studentische Diskussion um den Tod von Holger Meins (1941–1974) und die Ermordung des Richters Günter von Drenkmann (1910–1974) statt. Negt hatte den Studierenden Raum und Zeit dafür zugebilligt und ursprünglich vorgehabt, sich nicht selbst einzubringen. Statt nach dieser knapp halbstündigen Diskussion aber seine Vorlesung fortzusetzen, entschied er sich doch für den nachfolgenden Ad-hoc-Diskussionsbeitrag.

      Obwohl ich mich entschlossen hatte, mich nicht zu äußern, kann ich, was da gesagt worden ist, nicht unkommentiert lassen. Zum einen muss man zunächst einmal unterscheiden zwischen Forderungen, die die Arbeiterbewegung seit ihrer Entstehung erhoben hat, und jenen Forderungen, die im Konzept und in den Tatbeständen der RAF enthalten sind. Was die RAF will, hat für mich zunächst keinen irgendwie gearteten Traditionszusammenhang mit der europäischen Arbeiterbewegung, sondern einen ganz anderen Traditionszusammenhang, den, wie ich glaube, Rudi Dutschke (1940–1979) richtig bezeichnet hat.85 Es hat immer eine subversive Strömung innerhalb der Arbeiterbewegung gegeben mit ganz bestimmten inhaltlichen Einschätzungen des Systems.

      Ich glaube, man kann einfach nicht umhin, zu fragen, welche Einstellungen und welche Einschätzungen die RAF in Bezug auf das gegenwärtige kapitalistische System hat und wie sie es analysiert. Das wäre allenfalls zu ignorieren, wenn man diese Gruppe auf der Ebene der Psychologie betrachtet. Nimmt man aber ernst, was sie erklärt und analysiert, dann muss man sie an den Maßstäben messen, die sie sich selbst gesetzt hat.

      Die Arbeiterbewegung, soweit sie nicht eine völlig isolierte, sektiererische Gruppe repräsentiert hat, hat immer ein spezifisches Verhältnis zu bürgerlichen und republikanischen Freiheiten gehabt. Es ist der Arbeiterbewegung nie eingefallen, zu meinen, man könnte diese Freiheiten schlicht ignorieren und zerstören, ohne an deren Stelle eine andere Gesellschaft zu setzen. Das heißt es ging immer um die Aufhebung der bürgerlichen Freiheit, Aufhebung im Sinne von Überflüssigwerden begrenzter Freiheiten, aber immer auch um das Einbringen dieser begrenzten Freiheit in ein umfassenderes System von Freiheit und Menschenwürde. Es gibt also ein spezifisches Verhältnis der Arbeiterbewegung zu den Bedingungen, unter denen sie selbst zu agieren gezwungen ist. Die Verteidigung republikanischer, demokratischer Freiheiten, soweit sie überhaupt da sind, ist einer der Grundbestandteile der Arbeiterbewegung gewesen, und es wäre niemandem, das gilt für die kommunistische Arbeiterbewegung genauso wie für die sozialdemokratische, in den Sinn gekommen, den Ast abzusägen, auf dem man sitzt. Das hat eine spezifische Folge: Nicht erst die RAF sitzt in den Gefängnissen. Es hat während der Illegalisierung der Sozialdemokratie und während der Weimarer Republik eine Vielzahl von Kommunisten in Gefängnissen gesessen, es hat auch eine Vielzahl von Kommunisten und Linkssozialisten nach 1945 in den Gefängnissen gesessen. Aber was haben die in den Gefängnissen gemacht? Die haben unter anderem versucht, aufzuarbeiten, warum diese und jene Schritte gescheitert sind und scheitern mussten. Die haben versucht, Erfahrungen aufzuarbeiten unter den Bedingungen, unter denen sie standen, und die Bedingungen in Gefängnissen der Weimarer Republik waren nicht besser, sondern wesentlich schlechter als heute. Das liegt also nicht etwa an der Qualität von Gefängnissen, ob man Erfahrungen aufarbeitet oder nicht, ob man bestimmte Strategien verarbeitet oder sie einfach ignoriert.

      Zwei Leute gibt es, die – etwas hilflos zwar – versuchen, diesen Prozess in den Gefängnissen anzustoßen. Das sind Horst Mahler (1936) und Jan-Carl Raspe (1944–1977), für die immerhin die Gefängniszelle keine Monade, sondern eine eigene Erfahrung ist, eine des Scheiterns. Man macht wirkliche Erfahrungen im politischen Leben nur am Scheitern, nicht an den Erfolgen. Das bedeutet, dass diese Erfahrungen bei den RAF-Leuten zum größten Teil nicht gemacht, sondern blockiert werden.

      Und zweitens, ein Protest, der sich auf eine breitere Basis innerhalb einer linken, ja sogar der liberalen Öffentlichkeit stellt gegen Zustände in Gefängnissen, dieser Protest berührt nicht eine einzelne Gruppe – das möchte ich hier festhalten –, sondern der berührt jeden, der im Gefängnis sitzt. Ein überführter Mörder hat dasselbe Recht wie jeder andere. Das gilt für die Untersuchungshaft wie für andere Haftsituationen, solange man diese Gefängnisse hat, die mal einen Fortschritt dargestellt haben gegenüber den schlichten Leibesstrafen und Verstümmelungen. Diese Gefängnisse sind vom Bürgertum erfunden worden und zwar innerhalb seiner Emanzipationsgeschichte. Das heißt, die Formen, die sich in den Gefängnissen abspielen, immer am Maßstab jener, wenn auch als illusionär sich erweisenden Freiheiten außerhalb der Gefängnisse zu messen, setzt eine Einschätzung der politischen Bedeutung liberaler Freiheitsrechte im System voraus. Wer sagt, »das ist alles Mist, das muss man zerstören, dieser liberale Staat ist ein Scheinsystem der Unterdrückung, nur auf Verschleierung beruhend«, der spricht nicht die Sprache der Arbeiterbewegung und redet darüber hinaus kompletten Unsinn. Zu behaupten, es sei gleichgültig, ob offener Terror waltet wie im Faschismus oder ob ein System existiert, das wenigstens der Form nach eine Teilung der Gewalten aufweist und damit bestimmte Rechtsweggarantien kennt, ist schlicht Unsinn. So zu tun, als sei das gegenwärtige System eine Bananenrepublik, ist eine völlig falsche Einschätzung. Das geht nicht, das ist falsch, und alle Dinge widerlegen das. Die eigenen Erfahrungen widerlegen das.

      Der Protest auf dieser Ebene setzt eben voraus, dass man sagen kann, und da würde ich streng leninistisch argumentieren: Historisch mag es zwar sein, dass die Parlamente, die bürgerlichen Gerichte und meinetwegen auch die bürgerlichen Freiheiten überholt sind, sie sind aber nicht im praktischen Verständnis der davon betroffenen Menschen überholt. Deshalb ist es notwendig, sich mit diesen Dingen auseinanderzusetzen. Man kann behaupten, in hundert Jahren gebe es vielleicht keine bürgerlichen Parlamente mehr, nur nützt das den Betroffenen überhaupt nichts und erst recht nicht den Massen, die eben, wie Lenin sagt, noch nicht so weit sind, das zu begreifen. Genau diese Isolierung von den Massen, schon von den studentischen Massen, ist für mich Ausdruck einer nicht-sozialistischen Politik, wie immer man das drapieren mag. Das ist für mich keine sozialistische Politik, die sich hier ausdrückt, sondern das ist eine Politik, die fast zwanghaft auf Isolierung aus ist, und da hilft es auch gar nichts, wenn wir uns mit diesen Gruppierungen solidarisieren. Vor allem ihnen selbst hilft das nicht.

      Denn das wäre ein mechanischer Solidaritätsbegriff, der überhaupt nichts mit dem politischen Solidaritätsbegriff zu tun hat, eine Art Reflex, sich, wenn die Rechten eine Sache angreifen, mit den Angegriffenen zu solidarisieren. Das ist aber für mich keine Politik, sondern eine mechanische Solidarität, die sich eingespielt hat zuungunsten aller Beteiligten. Sie vernachlässigt nämlich zweierlei: Zum einen muss ein Protest, der sich darauf richtet, dass Menschen in diesem System in Gefängnissen isoliert, drangsaliert, eventuell gefoltert, jedenfalls mit Methoden bedacht werden, die nach dem eigenen Selbstverständnis des Rechtsstaatssystems unmöglich sind, unabhängig von der RAF für alle betroffenen Personen sprechen. Einem solchen Protest schließe ich mich vollständig an. Zum anderen muss ich, wenn ich politisch argumentiere, nachweisen können, ob diese Politik, die von dieser Gruppe vertreten wird, in irgendeiner Weise politisches Potenzial zu mobilisieren vermag. Und das muss ich eindeutig verneinen. Diese Politik ist falsch, die ist so falsch, dass es im Grunde nicht möglich ist, sich ungespalten zu solidarisieren, und ich halte es für gefährlich, dass man eine Identifikation mit dieser Politik einkauft, indem man Solidarität mit den Betroffenen fordert.

      Für mich steht fest, wer Solidarität mit der Baader-Meinhof-Gruppe fordert, muss gleichzeitig die Solidarisierung mit allen Gefangenen und allen Leuten fordern, die in Gefängnissen sitzen und bestimmten Methoden unterworfen sind, die mit dem Rechtsstaatssystem nicht

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