Hätschelkind. Wimmer Wilkenloh
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Читать онлайн книгу Hätschelkind - Wimmer Wilkenloh страница 17
Geländewagen, denkt Swensen und fragt: »Warum haben Sie uns diese Aufnahmen denn nicht mitgeschickt?«
»Ehrlich gesagt, der Briefumschlag war einfach zu schmal. Ich hätte die da sonst so richtig reinquälen müssen. Ich hab die Besten ausgewählt.«
»Diese Beurteilung sollten Sie lieber uns überlassen!« knurrt Hassanzadeh, und im Wort ›Sie‹ klingt ein drohender Unterton mit. Swensens Worte wirken dagegen eher loyal.
»Herr von Wiggenheim, ich hätte gerne sämtliche Negative, die Sie in St. Peter-Ording gemacht haben. Und hinterher verraten sie mir noch den Namen und die Adresse ihrer Geliebten.«
»Muss das sein?«
»Ja, das muss sein.«
* * *
Die kalten Neonleuchten werden von den Fliesenwänden in hunderten von grellen Lichtpunkten widergespiegelt. Die beiden Gerichtsmediziner, Dr. Helmut Markgraf und Dr. Jürgen Riemschneider, binden ihre grünen Schutzkittel zu und streifen sich Mundschutz und Latex-Handschuhe über. Sie sind am Nachmittag, mit dem Auftrag eine Wasserleiche in Husum zu obduzieren, aus Kiel angereist. Auf dem Sektionstisch aus blankem Edelstahl liegt ein Frauenkörper. Der penetrante Geruch von Fäulnisgas liegt in der Luft, doch der hochgewachsene Markgraf nimmt ihn, wie immer nach einer gewissen Zeit, nicht mehr wahr. Ein Gerichtsmediziner entwickelt bei seiner Tätigkeit auf die Dauer eine gesunde Immunität gegen alles Verweste, Verbrannte und Blutige. Wegen seiner schlaksigen Körpermotorik hat sich Markgraf von seinen Kollegen den Spitznamen Pinocchio eingehandelt. Doch im selben Moment, in dem er das Skalpell ansetzt, widerlegt er diesen Anschein sofort. Mit ruhiger Hand schneidet er ein sauberes Y in die bleiche Haut, ungefähr fünf Zentimeter vom Halsansatz entfernt bis hinunter zum Nabel.
Weich wie Marzipan, denkt Markgraf und setzt zwei weitere Schnitte vom Nabel jeweils zum linken und rechten Hüftansatz. Danach faltet er die Hautlappen auseinander. Das Innere des Rumpfs wird freigelegt. Markgraf schaltet die elektrische Knochensäge ein. Das runde Sägeblatt beginnt mit einem sirrenden Geräusch zu rotieren. Der Gerichtsmediziner setzt es am Brustbein an und lässt es von oben nach unten durch die Knochen fräsen. Das kreischende Geräusch erwischt Swensen, als er den Raum betritt. Er merkt, wie sich seine Nackenhaare aufstellen und bleibt erst mal in der Tür stehen um noch einmal tief durchzuatmen. Das Ekelgefühl hat sich aber bereits im Magen festgekrallt.
Wer ein Leben voller Weisheit führt, muss auch den Tod nicht fürchten.
Ein Satz, der ihm verblüffender Weise jedes Mal in den Kopf kommt, wenn ihn seine Arbeit in eine Pathologie führt. Glücklicherweise kommt das, seit er seinen Dienst in Husum angetreten hat, wesentlich seltener vor als zu seiner Zeit in Hamburg. Auf der anderen Seite hatte ihn der Aufenthalt in diesen Räumen auch immer wieder fasziniert. Da war jedes Mal so ein zwingendes und unausweichliches Gefühl, das ihn am Anfang völlig verunsicherte. Erst viel später erkannte er, dass der Schrecken des Todes seine eigene Todesangst mobilisierte, eine Angst, die offensichtlich in uns allen steckt und immer erst dann ins Bewusstsein tritt, wenn der Tod zum Greifen nah vor einem liegt.
Als Dr. Jürgen Riemschneider, der gerade das Herz gereicht bekommen hat, Swensen in der Tür nach Luft schnappen sieht, gibt er ihm ein Zeichen doch draußen zu warten. Doch der schüttelt den Kopf und tritt entschlossen an den Sektionstisch. Mit einem kurzen Blick überzeugt er sich von den leeren Augenhöhlen. Es ist die Tote von den Fotos. Die beiden Gerichtsmediziner unterbrechen ihre Arbeit, ziehen sich den Mundschutz herunter und streifen sich die blutigen Handschuhe ab.
»Na, Jan! Musst du dir das mal wieder antun?«, sagt Riemschneider und deutet dann mit einer Kopfbewegung zu seinem Kollegen. »Dr. Markgraf kennst du noch nicht, ist erst seit kurzem bei uns.«
»Hallo, Hauptkommissar Jan Swensen, Kripo Husum!«
Markgraf schüttelt Swensen die Hand.
»Dr. Helmut Markgraf!«, sagt er und sieht Swensen bedeutungsvoll an. »Das Übliche, denk’ ich? Zeitpunkt des Todes. Natürlicher oder nicht natürlicher Tod. Anhaltspunkte für Fremdeinwirkung.«
»Das auch. Aber als Erstes würde mich interessieren, ob die Tote Edda Herbst ist.«
»Es scheint Edda Herbst zu sein!« antwortet Riemschneider bevor Markgraf den Mund aufmacht. »Wir haben gehört, dass heute Vormittag ein Kollege von dir mit einem Videothekbesitzer hier war, der die Leiche identifizieren konnte.«
Riemschneider deutet auf den unteren Halsansatz der Leiche.
»Hier das Muttermal.«
Dann nimmt er die rechte Hand der Toten und hebt sie etwas in die Höhe. An den Fingernägeln sind Reste roten Nagellacks zu sehen.
»Und hier eine kleine, zirka 2 cm lange Narbe auf dem Handrücken.«
Nachdem Swensen sich die Merkmale angeschaut hat, wendet er sich erleichtert von dem Gruselszenario ab. Sofort glaubt Dr. Markgraf, dass jetzt seine Stunde gekommen wäre. Wie für einen Bühnenauftritt bringt er sich vor ihm in Stellung.
»Trotz der avitalen Beschädigungen ist eine Fremdeinwirkung auf den ersten Blick nicht festzustellen. Alles deutet auf Ertrinken hin. Die genaue Bestimmung der Todeszeit ist nach so langer Zeit im Wasser durch die starke Wärmeableitung kaum noch möglich. Das gilt auch für eine Bestimmung über supravitale Reaktionen, die sind genauso temperaturabhängig.«
Swensen kneift die Augen zusammen und Riemschneider übersetzt darauf das Fachchinesisch mit knappen Worten.
»Es gibt nur Verletzungen, die erst nach dem Tod durch Tierfraß, in diesem Fall Vögel, verursacht wurden. Zur Todeszeit können wir noch nichts sagen. Aber eins scheint sicher, wenn die Frau ertrunken ist, dann ist sie nicht vor Ort ertrunken. Auf der Vorderseite der Toten haben sich sehr starke Totenflecken gebildet.«
»Ja, und?« Swensen schaut die Gerichtsmediziner fragend an.
»Nun«, erklärt Markgraf mit Genugtuung, »Leichenflecken bilden sich nach dem Tod durch das Absinken des Blutes in tiefer liegende Gewebezonen.«
»Schwerkraft, alles fällt zu Boden«, erklärt Riemschneider. »Die Leiche muss also ziemlich lange auf dem Bauch gelegen haben. Wer nach dem Ertrinken im Wasser treibt, bildet keine Totenflecken.«
»Und was heißt das?«, fragt Swensen.
»Nun, die Frau ist mit Sicherheit nicht im Meer ertrunken. Sie muss gleich nach dem Tod längere Zeit auf festem Boden gelegen haben und erst viel später ins Wasser geraten sein. Das würde bedeuten, sie ist vorher ermordet worden!«
»Wann wissen Sie das genau?«
»Wir schauen uns als nächstes die Lungen näher an.«
»Ich gebe Ihnen meine Handynummer. Rufen Sie mich bitte sofort an.«
* * *
Susan raunt in ihrem typischen Singsang gerade ein »ich dich auch« ins Telefon und küsst geräuschvoll die Sprechmuschel, als sie Swensen neben sich wahrnimmt. Sie errötet bis unter die Haarwurzeln. Hastig legt sie auf und spielt nervös mit dem Kugelschreiber. Swensen zieht eine Folie mit Negativen aus einem Umschlag.
»Susan, können sie dafür sorgen, dass von diesen Negativen 40x50 cm Vergrößerungen gemacht werden, jeweils drei Abzüge?«
»Klar