Träumen. Gottfried Wenzelmann
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Die nächtlichen Gebilde beschäftigen mich inzwischen seit mehr als dreieinhalb Jahrzehnten. Zum ersten Mal habe ich den seelsorglichen Umgang mit Träumen im Mai 1982 erlebt. Damals nahm ich an einer Seelsorgegruppe des Ichthys-Werkes in Görwihl im Südschwarzwald unter der Leitung von Christa Weber und Christoph Häselbarth teil. Nachdem die einzelnen Teilnehmenden beim Frühstück von ihrem Befinden erzählt hatten, konnten sie ihre Träume der zurückliegenden Nacht einbringen. In der Gruppe wurde dann über die Bedeutung der Träume gesprochen. Diese Traumgespräche waren für mich so eindrücklich, dass ich noch heute den einen oder anderen meiner Träume mit seiner Deutung präsent habe.
In den folgenden Jahren habe ich immer wieder an solchen Seelsorgegruppen teilgenommen oder auch Traumgespräche im Rahmen von Einzelbegleitung durch Christa Weber beim Ichthys-Werk erlebt. Das war ebenso hilfreich wie beeindruckend. Es hat mich immer wieder zum Staunen gebracht, wie treffend sich die Seele in ihren Symbolen und Handlungssequenzen äußert. Häufig hatte ich den Eindruck: Die Traumbilder sind so präzise, so treffend, wie sie mein Verstand oder meine Fantasie nie auch nur annähernd konstruieren und konstellieren könnte. Immer wieder habe ich mich durch meine Traumbilder „auf frischer Tat ertappt“ gefühlt.
Bei dieser Art der Traumdeutung habe ich hautnah erlebt, wie die Seele im Traum hoch intuitiv arbeitet und was für ein hoch intuitives Geschehen die Deutung und Bearbeitung von Träumen ist. Ein Traum kann nicht mithilfe eines Wörterbuches, das lexikalische Deutungen gibt, erschlossen werden. Das wird uns noch im Laufe dieses Buches beschäftigen. Aber mir wurde auch deutlich, dass Traumdeutung etwas anderes als Willkür oder Beliebigkeit ist. Ich wollte Zusammenhänge entdecken und verstehen lernen, die lehrmäßig in der psychologischen Forschung vertreten werden, und fing an, mich mit psychologischer Fachliteratur zur Frage des Umgangs mit Träumen zu beschäftigen. Dabei wurde mir bald vor Augen geführt, wie vielfältig sich die vertretenen Positionen zum Verständnis und zur Deutung von Träumen darstellen. Hier wird es in den folgenden Darlegungen darum gehen, eine Schneise zur Orientierung zu schlagen.
Aus meiner eigenen Erfahrung heraus wuchs mir der Umgang mit den Träumen mehr und mehr ans Herz. Ich wollte gern an andere weitergeben, was ich selbst als hilfreich erfahren hatte. Als ich in der Zeit meiner Mitarbeit im Lebenszentrum für die Einheit der Christen auf Schloss Craheim zwischen 1999 und 2009 in die Arbeit im Tagungsteam einstieg, wirkte ich in den Tagungen zum Thema Innere Heilung mit. Dabei wurde bald klar: Es bedurfte in diesem Bereich Vertiefungstagungen, die ich zusammen mit Mitarbeitenden des Tagungsteams aufbaute. Seit Ende 2002 gab es dann in Craheim das Angebot von Intensivseelsorgegruppen, die dem ähnelten, was ich beim Ichthys-Werk selbst erfahren hatte. In diesen Gruppen bot ich auch das morgendliche Traumgespräch an. Außerdem gehörte zu meinem Dienst in Craheim die Begleitung einzelner Ratsuchender, in der auch immer wieder das Gespräch über Träume seinen Platz hatte.
So wuchs ich mehr und mehr in die Traumarbeit in Gruppen und in der Einzelbegleitung hinein. Als dann die Zeit der Mitarbeit auf Schloss Craheim zu Ende ging, tat sich für mich die Möglichkeit auf, diese Arbeit unter dem Dach der Geistlichen Gemeinde-Erneuerung (GGE) im gesamten Bundesgebiet fortzusetzen. Immer wieder erhielt ich von Ratsuchenden in der Einzelbegleitung und in Seelsorgegruppen die Rückmeldung, dass sie das Gespräch über Träume als hilfreich erlebt hatten. Im Herbst 2017 äußerte die Teilnehmerin einer Seelsorgegruppe im Kloster Nütschau in der Rückblicksrunde am letzten Abend sinngemäß: „Gottfried, du hast so viel zu Träumen gelesen und kannst uns helfen, uns unsere Träume verstehbar zu machen. Du solltest ein Buch über den Umgang mit Träumen schreiben.“ Auf der einen Seite fühlte ich mich geehrt, dass mir so etwas zugetraut wurde. Auf der anderen Seite dachte ich mir (ich habe es an diesem Abend nur vorsichtig angedeutet): Der Aufwand an Arbeit ist für mich zu groß – und winkte innerlich ab. Diese Anregung hatte ich in den folgenden Monaten vergessen. Sie muss aber in meinem Unbewussten doch irgendwie weitergewirkt haben. Einige Monate später wachte ich eines Morgens (ohne einen Traum dazu zu haben) mit der inneren Freude und Gewissheit auf: Doch, ich mache mich an die Arbeit. Das Ergebnis dieser inneren Gewissheit liegt nun mit dieser Veröffentlichung vor.
Für mich stellt die Arbeit mit Träumen ein Teilgebiet der Inneren Heilung dar, daher kann dieses Buch als ergänzender Band zu meinem ersten Buch „Innere Heilung. Theologische Basis und seelsorgliche Praxis“1 verstanden werden. Für mich sind die Themen Innere Heilung und Traumarbeit bei aller berechtigten Unterscheidung zusammengehörig.
Gliederung und Struktur des Buches
Das Thema dieses Buches spricht vom seelsorglichen Umgang mit den Träumen. Dieses Adjektiv bringt eine Eingrenzung und Spezifizierung mit sich. Im Folgenden geht es nicht um eine umfassende psychologische Bearbeitung des Themas. Ich schreibe dieses Buch nicht als Psychologe, sondern als Seelsorger. Zugleich wird sich jedoch zeigen, dass ein seelsorglicher Umgang mit Träumen nicht von psychologischen Einsichten losgelöst möglich ist. Es wird die Frage zu klären sein, wie das Verhältnis von psychologischen Einsichten zum theologischen Grundanliegen im Vollzug seelsorglicher Traumarbeit zu bestimmen ist. In den sechziger bis achtziger Jahren war das Verhältnis von Psychologie und Seelsorge zum Teil von Konkurrenz geprägt. Im seelsorglichen Umgang mit Träumen steht dieses Verhältnis erneut zur Diskussion und wird noch einmal grundlegend zu klären sein. Darum wird es im Abschnitt 1 gehen.
Nach einem kleinen Exkurs in die Schlafforschung und die Neurobiologe (Abschnitt 2) und einer Skizze einiger neuerer Wege der Traumdeutung (Abschnitt 3) entfaltet Abschnitt 4 als erster Hauptteil dieser Arbeit einen Ausschnitt psychologischer Erschließungskategorien, die sich für mich im Laufe der zurückliegenden Jahrzehnte meiner Traumarbeit bewährt haben. Hier habe ich viel von der Traumtheorie und -arbeit C.G. Jungs gelernt. Mir ist klar, dass es sich dabei um nicht mehr als einen Ausschnitt möglicher methodischer Annäherung an die Träume handelt. Der in Traumarbeit spezialisierte psychologische Fachmann wird viele Interventionsmöglichkeiten zur Erschließung von Träumen vermissen. Es ging mir nicht um Vollständigkeit, sondern um eine Darstellung dessen, was sich für mich in der praktischen Arbeit mit Träumen bewährt hat.
In Abschnitt 5 werden dann verschiedene Hinweise zum praktischen Vorgehen in der Arbeit mit Träumen aus psychologischer Sicht gegeben. Dieser Abschnitt endet mit praktischen Fragestellungen, mit denen eine Annäherung an den konkreten Traum möglich werden kann.
Der erste Hauptteil schließt mit drei Fragen zur Beeinflussbarkeit von Träumen. Die erste bezieht sich auf die Traumlosigkeit: Womit hängt sie zusammen und lässt sie sich beeinflussen? Die zweite Frage schließt sich daran an: Was fördert die Traumerinnerung? Schließlich richtet sich die dritte Frage auf das sogenannte luzide Träumen: Was ist damit gemeint und wie ist es zu beurteilen?
Im zweiten Hauptteil ab Abschnitt 7 wird dann der seelsorgliche Umgang mit Träumen unter der Berücksichtigung theologischer Fragestellungen thematisiert. Den Einstieg bildet ein Überblick über das Verständnis der Träume in vorneuzeitlicher Geschichte (7.1), gefolgt von einem Überblick über Träume und Traumverständnis im Alten und Neuen Testament (7.2). Um die Frage, was unter einem religiösen Traum zu verstehen ist, geht es in Abschnitt 7.3. Da diese Arbeit bestrebt ist, den seelsorglichen Umgang mit Träumen auf einen biblisch-reformatorischen Glauben zu gründen, ist eine Auseinandersetzung mit dem religiösen Gedankengut C.G. Jungs und seiner Schule erforderlich, da dieses sich in psychologischen und theologischen Kreisen großer Beliebtheit erfreut und ein reiches Repertoire an religiösen Fragen anspricht; diese Auseinandersetzung erfolgt in den Abschnitten 7.4.1 bis 7.4.6. Eine entgegengesetzte Einseitigkeit folgt danach mit einem Vertreter eines biblizistischen Traumdeutungsansatzes, mit dem sich der Abschnitt 7.4.7 auseinandersetzt.
Nach diesen Abgrenzungen kommt die biblisch-reformatorische Ausrichtung eines seelsorglichen Umgangs mit Träumen zur Darstellung. Dafür werden Konzepte wie Rechtfertigung und Heiligung in ihrem Bezug zur Traumdeutung bedacht (7.5.1). Anschließend wird der Frage nach der Verantwortung