Träumen. Gottfried Wenzelmann
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In manchen christlichen Kreisen übt die prophetische Dimension von Träumen eine große Faszination aus, sodass von einem Streben nach einem derartigen Traumverständnis gesprochen werden kann. Im Abschnitt 7.6 wird dem Recht auf und der Grenze der Offenheit für eine solche Dimension in Träumen nachgegangen. Dabei wird die Unterscheidung zwischen prospektiven, präkognitiven und prophetischen Träumen nahegelegt.
Abschnitt 8 gibt – entsprechend dem Abschnitt 5 unter psychologischem Blickwinkel – für einen seelsorglichen Umgang mit Träumen konkrete Hilfen durch die Nennung verschiedener möglicher geistlicher Fragenstellungen. Sie stellen nicht mehr und nicht weniger als Anregungen dar, die einem verantworteten intuitiven Umgang mit Träumen dienen wollen.
Die einzelnen Abschnitte sind zumeist deduktiv aufgebaut: Sie beginnen im ersten Teil mit einem oder mehreren einleitenden Beispielträumen, die dann im reflektierenden zweiten Teil bedacht werden. Im dritten Teil führe ich noch weitere Beispiele von Träumen zum jeweiligen Thema des Abschnitts an, um das Verständnis zu vertiefen.
Wer will, kann zuerst den jeweils angeführten Traum lesen und dann das Buch schließen, um sich zunächst eigene Gedanken zu einem möglichen Verständnis des jeweiligen Traumes zu machen. Ein Traum hat häufig verschiedene Facetten in seiner Botschaft, die er dem Träumer nahebringen will. Von daher geht es nicht zuerst um die Frage nach richtig oder falsch in der Traumdeutung, sondern eher um die Frage, was mehr oder weniger angemessen erscheint. Auf diese Weise kann der Leser sich bei der Lektüre dieses Buches selbst in der eigenständigen Interpretation von Träumen üben.
Um einer besseren Lesbarkeit willen habe ich zumeist die männliche Form gewählt. Leserinnen und Träumerinnen sind jeweils mit gemeint.
1.
Grundlegende Bemerkungen zum Umgang mit Träumen
Die Schlafforschung der letzten Jahrzehnte hat herausgefunden, dass jeder, der schläft, auch träumt. Die Fähigkeit zu träumen ist jedem Menschen gegeben, auch denen, die sich selten oder nie an ihre Träume erinnern können. Wenn das so ist, dann ist jeder Mensch vor die Frage gestellt: Wie gehe ich mit meinen Träumen um?
Eine immer noch – leider nicht ganz selten – anzutreffende Haltung ist diejenige, die sich sprichwörtlich in dem Satz „Träume sind Schäume“ ausdrückt. Eine solche Haltung hat meiner Einsicht nach zwei Gründe:
Der eine hängt mit einer Hilflosigkeit im Verstehen von Träumen zusammen. Wie soll man mit den nächtlichen Symbolen und Sequenzen der Träume umgehen? Diese Hilflosigkeit kann dazu führen, die eigenen Träume zu übergehen.
Den anderen Grund sehe ich in einem intuitiven Widerstand gegenüber der Botschaft der eigenen Träume. Im Traum könnten sich möglicherweise unangenehme Hinweise auf noch unbewusste Nöte, Wahrheiten und Lebenskonflikte zeigen, die der Träumer oder die Träumerin lieber von sich fernhalten will. Oft führen sie immer wieder zu unangenehmen Einsichten, die zum Teil in sehr drastischen, aufwühlenden Bildern verpackt auftreten. Dabei kommen Zusammenhänge ans Licht, die unser Selbstbild und unsere Lebensorientierung infrage stellen und auf Erlebnisse hinweisen, die der Aufarbeitung bedürfen. Sie unterwerfen immer wieder das Bild, das wir von uns selber haben, einer Prüfung. Sie können Persönlichkeitsfacetten von uns ans Licht bringen, die uns unangenehm oder sogar peinlich sind. Diese Hinweise können so deutlich sein, dass Träumende nach dem Motto reagieren: Ich möchte damit nichts zu tun haben. Manche weichen auf diese Weise einer Selbsterkenntnis aus, die für sie zu schmerzhaft ist – und lassen unbewusst ihre Träume nicht zu.
Allerdings hat dieses verdrängende Ausklammern der Träume neben der verpassten Chance einer vertieften Selbsterkenntnis noch einen weiteren Nachteil: Wie im Laufe dieses Buches gezeigt wird, enthalten Träume auch immer wieder Mut machende Bilder und Botschaften. Diese kommen bei einer grundsätzlichen Ausklammerung der eigenen Träume nicht beim Adressaten an. Wer seine Träume also negiert, verhindert die Möglichkeit der Entfaltung dieser wertvollen Seite der Traumbotschaft.
Hilfreich ist ein dauerhaftes Ausweichen vor den eigenen Träumen also nicht. Die Tatsache, dass unser Gehirn Nacht für Nacht Traumbilder produziert, kann zu der Überlegung einladen, ob hinter der menschlichen Fähigkeit zu träumen nicht ein Sinn stehen könnte, den zu entdecken sich lohnt. Sie kann zur Einladung werden, sich um ein Verstehen der Traumbilder zu bemühen. Wenn wir unangenehmen Dingen nicht ins Gesicht sehen und so tun, als existierten sie nicht, heißt das beileibe nicht, dass sie aufhören zu bestehen. Unterdrückte Dinge leben im Unbewussten weiter und können auf unberechenbare Weise ins Leben hineinwirken.
1.1 Einführung zum psychologischen Umgang mit Träumen
Sehr tiefsinnig heißt es im Talmud: „Ein ungedeuteter Traum ist wie ein ungeöffneter Brief.“2 Greifen wir die Metapher vom „Brief“ auf, dann ergeben sich zwei Fragen: Wer schreibt diesen Brief? Und welchen Inhalt bringt er mir nahe? Auf dem Hintergrund des christlichen Glaubens umfasst die Antwort auf diese Fragen zwei Dimensionen, eine psychologische und eine theologisch-seelsorgliche Dimension. Ich spreche von Dimensionen, weil – wie später noch gezeigt wird – für den christlichen Glauben die Antworten auf die oben genannten Fragen zwar zu unterscheiden sind, trotzdem aber dicht nebeneinanderliegen und wechselseitig aufeinander bezogen sind. Es ist eben nicht so, dass dort, wo das Unbewusste im Spiel ist, Gott auszuklammern wäre. Umgekehrt wäre es auch nicht angemessen zu behaupten, dass dort, wo Gott als Autor des Briefes in den Blick kommt, das Unbewusste nichts mehr zu suchen hätte.
Betrachten wir hier zuerst die psychologische Dimension der Antwort auf die Frage nach dem Autor des Traumbriefes:
Der Psychologe oder Neurologe wird zur ersten Frage sagen: Der Schreiber dieses Briefes ist das Unbewusste. Denn die moderne Traumforschung ordnet die Entstehung der Träume dem sogenannten Unbewussten zu. Dieses umfasst, allgemein ausgedrückt, all das, was zu unserer Persönlichkeit gehört, ihr jedoch nicht oder noch nicht zugänglich ist. So regt der Traum unter psychologischem Gesichtspunkt das Selbstgespräch zwischen Bewusstem und Unbewusstem an. Das Unbewusste teilt sich dem bewussten Ich so mit, dass der wache Mensch seine Botschaft bewusst aufnehmen kann.
Das führt uns zur zweiten Frage nach dem Inhalt des Briefes, der im Traum geschrieben wird. Psychologisch betrachtet ist der Traum eine Sprache in Bildern. Der Traum enthält so etwas wie eine Botschaft, die wie ein Brief „gelesen“, also gehört, verstanden und aufgenommen werden will. In diesem Sinn sagt Ulrich Kühn sehr prägnant: „Für mich ist ein Traum:
a) eine Schöpfung des Unbewussten,
b) eine szenische Verdichtung von Sinneseindrücken und
c) eine Symbolisierung von Emotionen.“3
Diese These von Ulrich Kühn enthält verschiedene wichtige Aspekte zum Verständnis von Träumen:
Zum einen geht sie davon aus, dass das Unbewusste sich in den Traumbildern sehr kreativ äußert. Häufig sind die Traumbilder so gestaltet, dass vieles von dem, was in ihnen passiert, auch in der Alltagsrealität vorkommen könnte. Personen, Gegenstände und Handlungen könnten – mindestens zum Teil – tatsächlich auch so in der Alltagswelt vorkommen. Aber die Kreativität des Unbewussten zeigt sich darin, dass diese alltäglich bekannten Dinge in einer spezifischen Weise verarbeitet, umgestaltet und häufig in einen neuen Kontext gestellt werden. Während die Wirklichkeit ritualisiert und mehr oder weniger berechenbar ist, gilt dies für die Traumwelt nicht.