Leander und die Stille der Koje. Thomas Breuer

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Leander und die Stille der Koje - Thomas Breuer

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erschloss sich Heinz Baginski zwar nicht, aber da war wohl jeder Widerstand zwecklos, zumal das Federvieh dank der lauten Stimme des Kojenwärters bereits wieder in einer der Pfeifen verschwunden war. Also baute der Erfolglose seine Ausrüstung ab und hängte sich seine Geräte nach bewährter Art um den Hals.

      »Gucken Sie doch mal am Vorland«, riet der Wärter noch, als Heinz durch den Buschtunnel zurück zu seinem Fahrrad trottete. »Da sind auch immer viele Möwen.«

      Möwen, dachte Heinz, ich will keine Möwen, ich will Enten, und die kriege ich auch – und zwar heute, verlass dich drauf, du Kojen-Schimanski!

      Er war selbst erstaunt, denn ihm hatte sich eine Idee eingeschlichen, ein Plan gar, und der sah so aus: Heinz Baginski würde nicht zurück nach Wyk radeln. Er würde, wie ihm der Kojenwärter geraten hatte, am Deich entlang zum Midlumer Vorland fahren und dort abwarten. Später, wenn der Kojenwärter sicher verschwunden war, würde er dann zur Vogelkoje zurückkehren und die Enten fotografieren. Das würde ihm morgen einen ganzen Vormittag sparen und dazu den erneuten Eintritt.

      Henning Leander saß in der Küche seines kleinen Fischerhäuschens in der Wilhelmstraße mit einer Kaffeetasse in der Hand am Küchentisch und schaute in den Garten hinaus. Das heißt, eigentlich schaute er in die Wildnis hinaus, die sein Großvater dereinst als Garten angelegt hatte. Leander wohnte nun ein gutes halbes Jahr in diesem Häuschen, das seit dem Tod des alten Heinrich ihm gehörte, und in der ersten Zeit war der Winter sein Freund gewesen, wenn es darum ging, einen Grund zur Vermeidung der Gartenarbeit zu finden. Aber dieser Winter war, so unerbittlich und unwirtlich er sich diesmal auch in die Länge gezogen hatte, seit einiger Zeit vorbei. Der Frühling hatte für ein üppiges Pflanzenwachstum gesorgt. Dabei hatte Leander sich gezielt an den Blüten der Obstbäume erfreut, wenn er morgens durch das Küchenfenster geschaut hatte, und die Wiese, die Woche für Woche höher wurde, einfach ignoriert. Doch das ging nun nicht mehr: Der Sommer war gekommen, die Bäume hatten ihre Blüten gegen Fruchtknoten getauscht, die langsam zu ganzen Früchten heranwuchsen, und nichts mehr lenkte das an Ästhetik gewöhnte Auge von der Wildnis ab, die den Garten zu verschlingen drohte. Sogar die Holzhütte im hinteren Teil, zu der Leander im Schnee noch mühelos vorgedrungen war, wenn er Brennholznachschub geholt hatte, entschwand allmählich ganz dem Blick des Betrachters. So ging das nicht weiter.

      Leander seufzte, schenkte sich aber zunächst noch einmal Kaffee nach, bevor er sich zu der unvermeidlichen Erkenntnis durchrang, dass die Ruhe nun ein Ende haben musste. Die Bürden des Haus- und Gartenbesitzers harrten seiner, und sie taten dies mit einer Unerbittlichkeit, derer er sich nicht länger erwehren konnte. Kurz und gut: An diesem Sommermorgen fasste der frühere Hauptkommissar des Landeskriminalamtes Schleswig-Holstein, der einst für die Bekämpfung der Organisierten Kriminalität zuständig gewesen war, den Entschluss, ab sofort die Rekonvaleszenz seines Burn-out-Syndroms zu beenden und in eigener Sache therapeutisch-produktiv tätig zu werden. Er würde jetzt und hier der auf natürliche Weise organisierten Wildnis des Gartens und der Wirrnis seiner Psyche den Kampf ansagen; er würde mit Sichel und Sense zu Werke gehen – für die Astschere war es zum Glück zu spät im Jahr. Und er wollte auch den Umgang mit dem Spaten nicht scheuen, wenn es denn unbedingt nötig würde.

      Er trank den letzten Schluck Kaffee. Das Ausspülen der Tasse bot noch eine kurze Galgenfrist, und auch die Suche nach seinen alten Klamotten in den Untiefen des Kleiderschrankes hatten etwas derart Herauszögerndes, dass sich bereits das schlechte Gewissen zu rühren begann. Doch einige Minuten später stand Henning Leander in Jeans, T-Shirt und Turnschuhen in seiner Wildnis, die zum Glück noch einigermaßen im Schatten lag.

      Er genoss in der Wärme des Sommermorgens einen Moment lang das Vogelgezwitscher in den Obstbäumen, bevor er sich endgültig einen Ruck gab. Zunächst einmal musste er sich einen Weg durch das hohe Gras zum Schuppen bahnen, ohne die Halme über Gebühr plattzutreten, denn schließlich wollte er sie ja mit der Sense abschneiden, und das ging nur in aufgerichtetem Zustand. Im Kampf mit dem rostigen Schloss der Holztür blieb er Sieger, und auch in der Finsternis des Schuppens, der für einen großgewachsenen Mann wie Leander reichlich niedrig war, wurde er nach einigem Suchen fündig. Natürlich hing die Sense in der hintersten Ecke an der Wand, und einsatzbereit sah sie eigentlich auch nicht aus. Das Blatt war rostig, die Schnittkante schartig, und so suchte Leander nach dem Amboss und dem Dengelhämmerchen, die er dank der Ordnung seines Großvaters auf einem Arbeitstisch rechts neben der Tür fand. Die Drahtbürste entfernte den gröbsten Rost, der Hammer glättete die Schneide einigermaßen. Mit dem Schleifstein zog Leander sie nach und hoffte, dass er das gute Stück am Ende nicht ganz zuschanden gemacht hatte. Schließlich sah sie wieder genauso schartig aus wie vorher, nur schärfer und ein wenig blanker schien sie zu sein.

      Ein erster Test direkt vor der Tür war denn auch so erfolgreich, dass sich Leander mit neuem Schwung und frischer Hoffnung ans Werk machte. Zunächst schnitt er einen Weg vom Schuppen zum Haus frei und nutzte diesen dann als Basislinie für die Expedition in den Dschungel zwischen den Obstbäumen. Leander hatte noch nie mit einer Sense gearbeitet, sein ganzes Wissen stammte aus Heimatfilmen im Fernsehen und einem einigermaßen ausgeprägten Verständnis für Physik und Technik. Und dennoch wirkte der Schwung, den er nach und nach ausfeilte, auf ihn fast schon fachmännisch. Das hohe Gras wich einer holperig geschnittenen Wiese, die gelegentlich eher gerupft aussah, aber immerhin war das Gras nach seinem Einsatz deutlich kürzer als vorher.

      »Das wurde aber auch Zeit!«, hörte er die schneidend eisige Stimme seiner Nachbarin Johanna Husen, die augenblicklich die Vögel zum Schweigen brachte und die Wärme aus dem Garten vertrieb.

      Als er sich umdrehte, erblickte er ihren dürren Hals und ihr Warangesicht direkt über der Ligusterhecke zum Nachbargarten. Johanna Husen war seinem Großvater in treuer und unerbittlicher Nachbarschaft verbunden gewesen und hatte ihm den Haushalt geführt, was allein deshalb viele Jahre gut gegangen war, weil sie den alten Hinnerk vergöttert und er dies zu nutzen gewusst hatte. Nach seinem Tod hatte sie dann keine Mühen gescheut, Leander unmissverständlich klarzumachen, wie er sich in seinem neuen Heim zu verhalten habe, wenn er sich des Andenkens an seinen Großvater würdig erweisen wollte. Dies drohte aber zu scheitern, denn Leander war weder ein alter Mann noch ein kleiner Junge, der sich dies gefallen lassen musste.

      »Guten Morgen, Frau Husen«, antwortete Leander und konnte einen gereizten Unterton nicht unterdrücken.

      »Ich will ja nichts sagen«, strafte sich Frau Husen selbst Lügen, »aber Ihr Herr Großvater ist jetzt gerade einmal ein halbes Jahr tot, und eigentlich geht es mich ja auch gar nichts an …«

      »Richtig«, warf Leander dazwischen, ohne jedoch für Frau Husen eindeutig auf die erste oder die zweite Aussage abzuzielen.

      »… und im Grunde ist es ja jetzt auch Ihr Garten …«

      »Im Grunde?«, startete Leander einen erneuten Versuch, das Schlimmste abzuwenden.

      »… aber das hat Ihr Großvater nicht verdient«, ließ sich Frau Husen nicht beirren, »dass Sie seinen Garten derart verwildern lassen!«

      »Ich verstehe Ihren Unmut, Frau Husen«, gab sich Leander kleinlaut. »Und wie Sie sehen, bin ich dabei, Abhilfe zu schaffen.«

      »Das wurde aber auch Zeit!«, wiederholte die alte Dame. »Seit einem halben Jahr stehlen Sie dem lieben Gott den Tag, anstatt dafür zu sorgen, dass Ihr Großvater ein ehrendes Angedenken erhält.«

      »Jetzt reicht es aber, Frau Husen«, begehrte Leander nun auf, der wieder einmal erkannte, dass er dem alten Drachen viel zu viel Raum für seinen Angriff gelassen hatte. »Wie Sie richtig bemerkt haben, ist mein Großvater tot. Und dies hier ist nun mein Garten. Entsprechend pflege ich ihn so, wie ich es für richtig halte. Und was das Andenken an meinen Großvater betrifft, steht Ihnen überhaupt kein Urteil zu.«

      Einen Moment lang schien Johanna Husen sprachlos

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