Sturm im Zollhaus. Heike Gerdes
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Sturm im Zollhaus - Heike Gerdes страница 5
Dirk Baukloh roch er, bevor der Kollege vom Rauschgift sich durch die Tür schob und »Moin, Kollegen« trompetete, denn Baukloh war vor Dienstbeginn wie üblich in einen Bottich mit Rasierwasser gefallen. Entweder waren seine Geruchsnerven durch den Dauerkontakt mit Marihuana und anderem Dope abgestumpft oder er war Opfer des Werbefernsehens und versprach sich von der chemisch-animalischen Note eine höhere Trefferquote bei Frauen.
»Seid ihr an dieser Brandsache dran oder surft ihr nur wieder im Internet?« Baukloh beugte sich über Lükkas Schulter und lehnte sich wie unabsichtlich gegen sie. Lükka drehte ihren Stuhl gerade so weit, dass Dixi Baukloh aus dem Gleichgewicht geriet. Auf seinen Wangenknochen erblühten scharlachrote Flecken, die überhaupt nicht zu seinen kupferfarbenen Locken passten, aber er schlenderte betont lässig zum Regal hinüber. »Ist doch ganz easy, wieso haltet ihr euch überhaupt so lange mit dieser Kiste auf?«
»Erleuchte uns, oh Allwissender!« Roman verschränkte die Hände hinter dem Kopf und lehnte sich bequem zurück. Das war das Schöne an diesem Stinker: Er war er immer für unterhaltsame zehn Minuten gut. Schließlich war Dixi Baukloh der Größte, der Superbulle aus der großen Stadt und überhaupt nur deshalb noch nicht beim LKA, weil er die Provinzkollegen nicht so nahe der holländischen Grenze mit den Drogenschmugglern alleine lassen konnte. Na gut, eine Nase für Shit hatte er, aber die hatte der Cockerspaniel Hermann schließlich auch und der kam bei den Kolleginnen zudem deutlich besser an.
»Die kleinen Eselstreiber haben es sich da drin richtig gemütlich gemacht wie zu Hause in Anatolien oder wo diese Ölaugen auch immer herkommen«, verkündete Baukloh. »Und dann haben sie ein Lagerfeuer angezündet, um eine Familienportion Hammelhoden zu grillen. Und dann – baff.« Beifallheischend sah er sich um. »Ist doch klar, oder?«
»Sonnenklar«, entgegnete Lükka, die gerade den Posteingang ihrer Mailbox studierte. »Und weil das in Anatolien so üblich ist, haben sie das Feuerchen mit ein paar Litern Nitroverdünner angezündet. Deswegen haben Katenhusen und Müller auch eben gemailt, dass sie im Schutt größere Mengen Brandbeschleuniger nachgewiesen haben.« Sie schlug sich auf die Oberschenkel, griff ihre Zigarettenschachtel und erhob sich. »Ich für meinen Teil brauche dringend ein bisschen frische Luft!«
5.
Als Roman die Wohnungstür hinter sich zuzog, fühlte er sich wie ein Hähnchen im Backofen. Noch auf dem Weg zur Balkontür zog er das durchgeschwitzte T-Shirt aus und ließ es achtlos fallen. Er streifte die verschmorten Sandalen ab und fühlte den stacheligen Nadelfilz des Teppichbodens unter seinen Füßen, die in einem wenig besseren Zustand als die Schuhe waren. Fast kam es ihm vor, als kräuselten sich die Haare auf seinen Armen in der Hitze, und die Haut in seinem Gesicht schien sich in prickelnden Blasen abzulösen, sogar den Duft von gebratenem Fleisch glaubte er zu riechen.
Er schüttelte sich und die Blasen verwandelten sich gnädig in beißende Schweißtropfen, die in seine Augen rannen. Hastig zog er die Rollläden hoch, mit denen er wie jeden Tag vergeblich versucht hatte, die Hitze auszusperren, und öffnete die Balkontür. Was hatte er anderes erwartet? Im Sommer war es in dieser Wohnung unter dem Dach nicht auszuhalten. Schon ein paar Sonnentage reichten, um die Raumtemperatur auf fiebrige vierzig Grad hochzutreiben. Nur vergaß er das regelmäßig, während er im Büro schmorte und sich seine zwei Zimmer mit Küche und Bad kühlträumte.
Aber er kam zumindest regelmäßig an die Luft, frisch oder nicht.
Unterm Dach in der Rumpelkammer des Zollhauses war es bestimmt nicht weniger heiß gewesen. Wie hatten die Kinder das ausgehalten? Und wie lange? Weder er selbst noch Lükka waren heute einen Schritt weitergekommen. Die Vermisstenkartei hatte nichts hergegeben, nicht in Niedersachsen und auch nicht in den anderen Bundesländern. Vor Dienstschluss hatten sie noch eine Anfrage an die niederländische Polizei abgeschickt, aber ohne große Hoffnung. Niemand schien die drei Kinder zu vermissen, niemand auch nur von ihrer Existenz zu wissen.
Angenommen, sie waren tatsächlich unbemerkt ins Zollhaus gekommen. Weiter angenommen, sie hätten sich wirklich da oben auf dem Dachboden zwischen eingestaubten Möbeln und alten Klamotten mucksmäuschenstill verhalten, was für so kleine Kinder eine reife Leistung wäre, so blieb doch eine Frage offen: Wovon hatten sie gelebt?
Wasser war weiter kein Problem, das konnten sie auf der Besuchertoiletten des Theaters holen. Aber irgendjemand musste sie mit Essen versorgt haben, ob mit Dirk Bauklohs Hammelhoden, mit Dosenravioli oder auch nur mit Brot und Käse.
Roman bemerkte auf einmal, wie hungrig er war. Der Bratengeruch, den er seit dem Betreten seines Wohnofens in der Nase hatte, war real. Er drang aus der Küche des Restaurants im Erdgeschoss nach oben, das Gyros und Souflaki für den Abend auf Vorrat produzierte, und Romans Magen knurrte. Der Kühlschrank gab willkommene Kälte frei, die Roman länger genoss, als die Inspektion seiner Vorräte es rechtfertigte. Drei kaum verschrumpelte Knoblauchzehen. Ein Eckchen Camembert, das Roman nach kurzer Betrachtung in den Mülleimer fallen ließ. Ein Becher Joghurt, immerhin, nur eine Woche überfällig, dafür mit einem Aludeckel, dessen Wölbung eine kurz bevorstehende Explosion verhieß. Trotzdem öffnete Roman den Becher und tunkte die Fingerspitze in die weiße Pampe. Das Zeug prickelte auf der Zunge und gesellte sich ohne weitere Umwege zum Käse.
Also zwei Optionen: Bis acht mit knurrendem Magen warten und dann unten in einen Grillteller investieren oder doch noch einkaufen. Roman entschied sich fürs Einkaufen, zumal auch der Kaffeevorrat für morgen früh nur noch eine dünne Plörre hergeben würde. Romans Laune verschlechterte sich. Ohne Fahrrad würde das eine echte Expedition werden, denn Leer hatte die vermutlich einzige Innenstadt, in der es seit Jahren keinen Supermarkt mehr gab. Romans Auto stand passenderweise gerade in der Werkstatt und wartete auf ein neues Getriebe.
Nach drei Kilometern zu Fuß, mit einem halben Dutzend leerer Flaschen im Rucksack, hatte Roman im Geist alle Varianten schwarzer Pädagogik durchgespielt bis hin zur Prügelstrafe für Fahrraddiebe. Seine finsteren Gedanken mussten ihm anzusehen sein, denn der rundliche Junge in der Leergutannahme zuckte zusammen und starrte ihn mit großen, erschrockenen Augen an, als Roman die Flaschen auf den Tresen stellte.
Romans Gewissen regte sich, legte sich aber sofort wieder ins Körbchen, als er unter dem blauen Kittel einen rotgeflammten Hemdkragen hervorblitzen sah. Sieh mal einer an, das war doch der kleine Mistkerl von heute früh, der sein Fahrrad geklaut hatte! Mit einiger Anstrengung unterdrückte Roman den Impuls, den Burschen am Kragen zu packen und kräftig zu schütteln. Statt dessen fragte er ganz ruhig: »Wo ist mein Rad?«
»Draußen im Fahrradständer.« Der Junge richtete sich auf und sah Roman halb schuldbewusst, halb trotzig an. »Ich wollte es heute Abend zurückbringen. Wirklich. Ich bin doch kein Dieb!«
»Ach nein? Deswegen hast du mir auch das Fahrrad geklaut, weil du so ein braver Junge bist.«
»Ich hatte es eilig.«
Genau das war der Punkt, der Roman interessierte, aber hinter ihm ballte sich inzwischen eine Traube von Einkaufswagen und darin begann es ungeduldig zu grummeln. Sichtlich erleichtert reichte der Junge Roman den Pfandbon und wandte sich den Bierkästen des Blümchenkleides zu, das sich jetzt unnachgiebig wogend zwischen Roman und den Tresen drängte.
Achselzuckend drehte Roman sich um und schlängelte sich zwischen den anderen Wartenden hindurch. Um den Jungen würde er sich später kümmern, er wusste ja jetzt, wo er ihn finden konnte. Und dann würde er ihn nicht nur nach dem Fahrradklau fragen. Bevor der Polizist heute früh auf den Jungen zugesteuert war, hatte der es schließlich gar nicht eilig gehabt, sondern mit den anderen Gaffern das Feuer beobachtet. Entweder wusste er etwas über den Brand oder er hatte etwas anderes ausgefressen, denn an einer Uniformallergie litt er vermutlich nicht.