Der letzte Überlebende. Sam Pivnik
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Es dauerte noch ein halbes Jahr, bis Alfred Rossner nach Będzin kam. Bis dahin ging es uns einigermaßen gut. Rossner sah seltsam aus; ihm fehlten einige Zähne, und er hatte einen Hüftschaden. Was wir nicht wussten, war, dass er Bluter war und Glück gehabt hatte, überhaupt noch am Leben zu sein. Er wurde zum sogenannten Treuhänder ernannt und betrieb zwei Kleiderfabriken im Auftrag der SS. Einer seiner leitenden Angestellten war Arje Ferleizer, ein Jude, der einmal Rossners Chef gewesen war und 1938 aus Deutschland geflohen war, um der Verfolgung zu entgehen. Ironie des Schicksals, dass sie sich in Będzin wieder trafen.
Hendla und mein Vater arbeiteten für Rossner, genau wie fast zehntausend Juden, die er bis 1943 beschäftigte. Damals wussten wir gar nicht zu schätzen, was für ein gefährliches Spiel Rossner in unserem Interesse spielte. Anders als der berühmtere Oskar Schindler war Rossner kein unabhängiger Geschäftsmann, sondern Angestellter der SS, und entsprechend beschränkt waren seine Möglichkeiten, Juden zu helfen. Immerhin wurden mein Vater und Hendla als Facharbeiter eingestellt und als „kriegswichtig“ eingestuft. Sie bekamen Sonderausweise, spezielle blaue Kennkarten, die sie zumindest theoretisch vor der Willkür der SS schützten. Wir wussten damals nichts davon, aber dank dieser Pässe konnten wir zumindest für kurze Zeit als Familie zusammenbleiben. Alfred Rossner, der Nazibeamte schmierte, hohe SS-Leute mit ganz besonderen Uniformen versorgte und ihre Frauen in die neueste Mode der Vierzigerjahre kleidete, hielt mit all seinem Tun auch die Pivniks am Leben.
Für mich war es nicht so leicht, Arbeit zu finden. Vater war Schneidermeister, und Hendla mit ihren achtzehn Jahren war eine geschickte Näherin, aber ich war letztlich ein kleiner Junge ohne Ausbildung. Das bisschen Nähen, was ich hinbekam, war nichts im Vergleich zu Rossners Leuten. Aber dann hatte ich doch Glück. Ich hatte Pferde immer schon gern gehabt, und ein Tier, das ich immer wieder streichelte und tätschelte, gehörte einem jüdischen Lieferanten namens Dombek. Jetzt pflegte und fütterte ich also dieses Pferd und half Dombek beim Möbeltransport, machte Botengänge für ihn, half beim Heben und Schleppen. Ich weiß nicht mehr, wie viel ich dafür bekam – wahrscheinlich nur ein Taschengeld aber es war mein erster Lohn, und ich war stolz, etwas zum Haushaltseinkommen beizutragen.
Das alles änderte sich allerdings Anfang der Vierzigerjahre. Inzwischen hatte ich Arbeit in einer Möbelfabrik gefunden, die einem Mann namens Killov gehörte und von Herrn Häuber verwaltet wurde. Beide Männer gehörten zu den freundlicheren Deutschen, aber nicht annähernd so wie Rossner. In der Fabrik wurden Möbel und hölzerne Transportkisten hergestellt, und die Arbeiter waren nach Juden und Nicht-Juden aufgeteilt. Ich war mit der Fertigung schwerer Kisten aus Buchenholz beschäftigt. Sie wurden für den Transport der 500-Kilo-Bomben benutzt, die die Dornier- und Heinkel-Flugzeuge über Europas Städten abwarfen. Ende 1940 hatten wir keine Ahnung, was im Rest der Welt vor sich ging. Inzwischen hatte man uns die Radios abgenommen, und so weit es uns betraf, war Post ein Ding der Vergangenheit. Mein Vater bat mich zu erwähnen, dass ich noch einen älteren Bruder hatte, der ebenfalls Arbeit suchte. Da Dombek jetzt niemanden mehr hatte, der ihm mit den Pferden half, arbeitete Nathan für ihn.
Wenn das überhaupt möglich war, dann liebte Nathan Dombeks Pferde noch mehr als ich. Er kümmerte sich um zwei der Tiere, bis irgendwann ein Wagen an der Steigung zum Bahnhof wegrutschte und ihm über den Fuß fuhr. Außerdem hob er sich wenig später einen Bruch, und damit war es ihm nicht mehr möglich, für Dombek zu arbeiten.
Meine Zeit in der Fabrik war surreal. Es fühlte sich an, als wären wir alle Teile einer Maschine. Wir Juden bekamen natürlich weniger Lohn als die Nicht-Juden, und mit ihrer typischen teutonischen Besessenheit zogen die Deutschen uns auch noch Steuern und Sozialabgaben von unserem Wochenlohn ab. Diese Abzüge stiegen noch, als „Beiträge“ zur sogenannten Winterhilfe eingezogen wurden, eine Sondersteuer, mit der warme Kleidung für die Truppen an der bitterkalten Ostfront finanziert wurde.
Ein wichtiger Faktor meiner Arbeit in der Killov-Fabrik war das Essen – eine Konstante, die immer wichtiger wurde, während sich alles andere um uns herum auflöste. Mittags gab es Suppe oder Eintopf und vor allem eine Dreiviertelstunde Pause. Da ich noch jung war, möglicherweise sogar der jüngste Arbeiter dort, war ich Herrn Häuber aufgefallen, und er entwickelte ein väterliches Interesse an mir. Er ließ mich Besorgungen erledigen, und am Anfang, bevor die Bestimmungen aus Berlin strenger wurden, durfte ich sogar seine kleine Tochter morgens zur Schule bringen. Nathan ging es ähnlich. Die Tochter ging auf die Fürstenbergschule für Nicht-Juden, die auch nach dem Einmarsch der Deutschen noch in Betrieb war. Wenn ich zu Herrn Häuber nach Hause kam – manchmal fuhr ich ihn in der Mittagspause mit seiner zweispännigen Kutsche dorthin –, schenkte mir Frau Häuber etwas Essen für meine Familie. Ich würde jetzt gern behaupten, dass es sich um Marmelade, einen Laib Brot, Wurst, Tee, Zucker oder Butter handelte … aber all das hatte es nur im Garten Eden gegeben, und der gehörte der Vergangenheit an. Trotzdem waren auch Gemüse und Kartoffeln in unserer Situation sehr willkommen. Chana war erst sieben, und Wolf und Josek sogar noch kleiner. Selbst Majer war erst elf Jahre alt, und in einer Stadt, in der Arbeit rar war, konnte er noch nichts dazuverdienen.
Die Fabrik hatte allerdings auch ihre Schattenseiten. Killov und Häuber waren freundlich, aber ihre Untergebenen waren es leider nicht. Der Beamte, der uns jeden Tag hinein- und wieder hinausließ, war ein überzeugter Nazi und verachtete uns zutiefst. Er war ein Widerling mit nur einem Arm, der immer einen antisemitischen Spruch auf den Lippen hatte. Und oft genug zog er uns auch am Ohr, wenn er in der entsprechenden Stimmung war. Niemand beklagte sich, niemand unternahm etwas dagegen, nicht zuletzt, weil die meisten Polen die Anerkennung als Volksdeutsche beantragt hatten. Das war vielleicht am schwersten zu ertragen: Freunde und Nachbarn starrten uns mit kaum verhohlenem Hass an und waren froh, wenn sie nicht mit uns in derselben Werkstatt arbeiten mussten. Als Himmlers üble Rassenpolitik durch Waffen, Hunde und volles Kriegsrecht verschärft wurde, wechselten entsetzlich viele Leute blitzschnell die Seiten.
Außerhalb der Fabrik wurde das Leben täglich schwerer. Läden und Firmen eröffneten in den Wochen nach dem Einmarsch bald wieder, aber jetzt wurden sie natürlich von Deutschen oder zumindest von polnischen Volksdeutschen geleitet, und Juden durften sie gar nicht mehr betreten. Wir waren also auf bestimmte Stadtviertel beschränkt und konnten nur noch in wenigen Läden einkaufen. Dort bildeten sich die unvermeidlichen Schlangen, wie sie zum Symbol des Kriegsalltags in ganz Europa werden sollten. Vor allem Frauen und Kinder standen stundenlang im strömenden Regen oder scharfen Wind, um wenigstens ein bisschen Brot zu ergattern. Gerade deshalb war die Killov-Suppe so lebenswichtig: So bekamen Nathan und ich wenigstens einmal am Tag eine anständige Mahlzeit. Ich wusste, unsere Eltern mussten auf so etwas verzichten, damit wenigstens die Kleinen genug zu essen hatten.
Das Schlangestehen war nicht nur eine Unannehmlichkeit, die aus der kriegsbedingten Lebensmittelrationierung resultierte. Zu dieser Zeit trugen wir noch keine gelben Armbinden, dieses Stigma kam erst später. Und nicht orthodoxe Juden sahen im Prinzip nicht anders aus als alle anderen. Jetzt aber rannten die polnischen Kinder – darunter auch einige ehemalige Freunde von mir – an den Schlangen vorbei, riefen: „Jude! Jude!“, und zeigten mit dem Finger auf uns. Dafür bekamen sie Extraportionen Butter und Marmelade, wie die Silberlinge für den Verräter im christlichen Neuen Testament. Die Polizei, die inzwischen komplett in deutscher Hand war, holte die Juden aus der Schlange, schlug sie und ließ sie oft blutend