Der letzte Überlebende. Sam Pivnik

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Der letzte Überlebende - Sam Pivnik

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Er kam aus Warschau und war einer der inspirierendsten Lehrer seiner Generation. Wir stellten damals unsere Lehrer nicht infrage. Das galt für alle Kinder, ob sie jüdisch waren oder nicht. Herrn Rapaport konnte ich eigentlich nicht leiden. Er war der Direktor meiner Schule und wirkte immer sehr hochmütig – ich fürchtete mich ein wenig vor ihm. Dummköpfe waren sicher nicht sein Fall, aber er eröffnete uns allen Möglichkeiten der Bildung. Da er selbst ein eifriger Sportler war, setzte er Ballspiele auf den Lehrplan. Und er gründete das erste Orchester unserer Stadt.

      Meine Schule war in etwa das, was man heute eine staatliche Grundschule nennen würde. Morgens sangen wir, dann gab es stundenlang Unterricht in Fächern wie Geografie und Mathematik, Metallarbeit und Holzarbeit. Die Unterrichtssprache war Polnisch, unsere Lehrer waren Christen. Meine Lehrerin in der dritten Klasse, der letzten Klasse, die ich besuchte, hieß Katschinska. Wir trugen eine Schuluniform, dunkelblau mit einem grünen Streifen an den Hosenbeinen, und dazu kleine runde Mützen mit grünem Besatz. Die Lehrer inspizierten uns, da sie wie viele Generationen vor ihnen der Meinung waren, dass Reinlichkeit gleich nach der Göttlichkeit kam. Sie schauten nach unseren Ohren und Hälsen und sorgten dafür, dass unsere weißen Hemdkragen steif gestärkt waren. In der Schule trugen wir Hausschuhe, denn das Gebäude war neu und hatte eine Zentralheizung und blitzblank gebohnerte Böden. Auf solchen Böden konnte man nicht mit Straßenstiefeln herumlaufen. Mir gefiel am besten das Gärtnern. Das Fach hatte einen anderen, hochtrabenderen Namen, aber letzten Endes war es eben Gärtnern. Jede Klasse hatte ein eigenes Beet, und wir bauten um die Wette Blumen, Tomaten und Rettiche an. Ich mochte die Erde, die frische Luft, die Sonne. Tafeln und Kreide und Fragen und Antworten waren weniger mein Fall. Natürlich sollte die Schule echte Männer aus uns machen. Aber am Ende kam es dann doch so, dass eine ganz andere Institution das erledigte. Eine Institution, die sich Herr Rapaport und Fräulein Katschinska niemals hätten vorstellen können.

      Mittags gingen wir alle nach Hause, ich also in den Hof Nummer 77. Manchmal nutzten wir die Gelegenheit für ein bisschen verbotenen Fußball in einer Gasse. Heute denke ich, das waren meine wichtigsten „Sozialkontakte“. Mein Vater achtete sehr auf meine Bildung und fragte mich ab, was ich gelernt hatte. Aber sei wahres Interesse galt dem Nachmittagsunterricht. Der wurde auf Hebräisch gehalten und umfasste religiöse Unterweisung, und er fand nicht in der Schule oder der Synagoge statt, sondern in Privathäusern. In jeder Klasse waren fünfundzwanzig Jungen, und der Lehrer und sein Gehilfe unterrichteten uns in den Geheimnissen unseres Glaubens. Vater fragte mich jeden Samstag ab, und wenn ich zögerte oder etwas nicht wusste, dann bekam ich seine Hand oder gar seinen Gürtel zu spüren.

      Ich sehe meinen Vater noch vor mir – einen achtsamen, sehr genauen kleinen Mann mit ordentlich gestutztem Bart. Er spielte mit uns weder Fußball noch Murmeln, aber das heißt nicht, dass er kein guter Vater war. Denn er war ein guter Vater. Die Zeiten haben sich geändert. „Wer die Rute schont, verdirbt das Kind“, lautete eine Maxime seiner Generation überall in Europa. Und ich erinnere mich, dass ich staunend auf dem Boden saß, wenn er uns die Geschichten von Noah und der großen Flut erzählte, von Joshua und der Eroberung Jerichos und von der Geschichte eines stolzen Volkes, das Gott auserwählt hatte. Meine Mutter und Hendla halfen mir bei den Hausaufgaben, und die einzigen Bücher, an die ich mich bei uns zu Hause erinnere, hatten religiöse Inhalte.

      Manchmal denke ich traurig, dass ich wohl einfach nur ein unartiger Junge war. Ich ging ins Kino – es gab drei Kinos in Będzin – und liebte Cowboyfilme und Tarzan mit Johnny Weissmüller, wie er sich mit lautem Schrei durch den Dschungel schwang. Das war so weit ganz in Ordnung und allgemein akzeptiert, aber es gingen auch Fensterscheiben zu Bruch, wenn wir Fußball spielten, oder wir klauten Obst aus dem Garten von Herrn Rojecki. Ich erinnere mich an eine Dame mit einem großen, ulkigen Hut. Wenn man ein kleiner Junge ist und es schneit, und da kommt eine Dame mit einem ulkigen Hut … na ja, sie wurde zur Zielscheibe für unsere Schneebälle. Heute tut es mir leid.

      Ich hatte Schlittschuhe mit Stahlkufen, und manchmal jagten wir den Wagen (keine große Herausforderung) oder Straßenbahnen (das war lebensgefährlich, einer von uns büßte dabei einen Arm ein) nach. Mehr als einmal war die Polizei hinter uns her. Wer weiß, heutzutage würde man mir vielleicht eine offizielle Verwarnung aufbrummen.

      Wenn ich erwischt wurde, bekam ich den Gürtel meines Vaters zu spüren. So war das eben. Meine Mutter griff manchmal ein, wie Mütter es nun mal tun, um die Schläge abzumildern. Sie hätte sie wohl auf sich genommen, wenn das möglich gewesen wäre. Wann immer es ein Problem – mit meinem Benehmen oder sonst – gab, zog mein Vater die Bibel zurate. Er hatte einen guten Ruf in unserer Gemeinde, Menschen in Schwierigkeiten wandten sich an ihn, und er redete stundenlang mit ihnen. Dabei saß er im Schneidersitz in seiner Werkstatt und nähte eifrig weiter. Wenn er selbst keine Antwort parat hatte, ging er zum Rabbi oder verbrachte einige Zeit im stibl, dem Gebetsraum.

      Ich muss etwa elf Jahre alt gewesen sein, als Hendla uns eröffnete, dass sie nach Palästina auswandern wollte. Jahrhundertelang hatten sich die Juden in der Diaspora nach dem gelobten Land gesehnt, nach Kanaan, dem Land, in dem Milch und Honig flossen, wie uns die Bibel lehrt. Dieses Heimatland der Juden war Palästina, von Arabern bewohnt und von den Briten verwaltet, dem immer noch mächtigsten Empire der Welt. Junge Juden und Jüdinnen wollten dorthin auswandern und einen jüdischen Staat gründen, und wie in allen jüdischen Gemeinden gab es auch in Będzin Jugendklubs und Organisationen jeder politischen Couleur. Hendla hatte sich einer solchen Gruppe angeschlossen, die Gordonia hieß. Auch Nathan war dort Mitglied. Sie trugen blaue Schals mit einem besonderen Ring, sprachen über Palästina und lernten Hebräisch. Es hieß, man brauche ein Jahr Vorbereitung, bevor es losgehen konnte, und diese Zeit der Vorbereitung wurde Hachschara genannt. Die eigentliche Emigration, die Tausende Juden inzwischen nach Palästina geführt hatte, wurde Alijah genannt. Aber Landwirtschaft? In der Wüste? Meine Eltern waren nicht sehr begeistert, außerdem fürchteten sie wohl, Hendla würde zu viel Kontakt mit Nicht-Juden haben, nicht koscheres Essen zu sich nehmen und womöglich schwanger werden. Ich verstand ihre Bedenken nicht, schließlich hatte ich Hendla noch nie mit einem Jungen gesehen, vielleicht weil ich zu jung für den Jugendklub war. Und im Übrigen spielte Hendla nicht Fußball – oh Wunder! Wir waren einfach nicht auf derselben Wellenlänge. Hendla bekam nie die Chance, nach Palästina zu gehen, obwohl mein Vater immer wieder mit dem Rabbi darüber sprach.

      So sah also meine Kindheit aus. Będzin hatte natürlich seine eigenen Probleme. Wenn man die Lokalzeitungen aus den Dreißigerjahren liest, spürt man die Spannungen: Streitigkeiten bei der Generalversammlung der Talmud Thora; Menschen, die sich gegenseitig als Schurken bezeichnen und mit Fäusten drohen. Sogar auf dem Gelände der Synagoge gab es Schlägereien. Ein Kommentar in der Zeitung lautet: „Wir brauchen Frieden in unserer Stadt.“

      Aber ich war erst zwölf Jahre alt und wusste von alldem nichts. Für mich standen Fußball und der Schulgarten und der Geruch nach Pferdedung in Nummer 77 im Vordergrund, Herr Rojeckis zitternde kleine Hunde und das Gurren der Tauben. Und ich genoss die Zeit auf heiligem Boden, in Wodzisław Śląski, wo die Familie meiner Mutter lebte. Die Kiefern, den Fluss, das Brot, den Käse. Den Garten Eden.

      Aber da gab es noch einen anderen, der eine Idee vom Garten Eden hatte. Ein bayerischer Ex-Gefreiter, der sich kurz nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland einer rechten Organisation angeschlossen hatte. Das einzige Problem bestand darin, dass er seinen Garten Eden in einem anderen Land errichten wollte.

      In meinem Land.

      2

      Eine Welt wird auf den Kopf gestellt

      Ich feiere meinen Geburtstag nicht mehr. Schon lange nicht mehr. Genauer gesagt, seit dem 1. September 1939, denn an diesem Tag marschierten die Deutschen in Polen ein. Ich weiß nicht, ob ich an diesem Geburtstag noch Geschenke bekam, vermutlich schon. Es waren schwierige Zeiten, aber meine Mutter war daran gewöhnt, mit der Familienkasse zu jonglieren, und meine Eltern hätten mich nie enttäuscht. Es war ein

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