Der letzte Überlebende. Sam Pivnik
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Mein Vater heiratete zum ersten Mal kurz nach seiner Rückkehr nach Będzin. Viele Jahre später gab es Gerüchte in der Familie, seine erste Frau sei bei der Geburt der Tochter Hendla gestorben, aber das stimmt nicht. Sie müssen sich irgendwann getrennt haben, denn ich erinnere mich an diese Frau. Wir hatten zwar nichts weiter mit ihr zu tun, aber ich wusste, wer sie war. So ist das in frommen orthodoxen Familien. Vermutlich gab es irgendeinen Skandal, und danach sprach man nicht mehr von ihr. Meine Großmutter Ruchla-Lea, die mit uns in der Modrzejowska-Straße 77 lebte, war die Quelle solcher Geschichten, aber sie erzählte sie in aller Ruhe, fast nebenbei, als Gutenachtgeschichten bei Kerzenlicht. Hendla, die Tochter meines Vaters, lebte bei uns. Sie war wohl fünf Jahre älter als ich. Und ihre Mutter besuchte ihre eigene Schwester in unserer Nachbarschaft und sprach dann auch mit Hendla. Ich glaube, sie heiratete einen Ladenbesitzer in einer Nachbarstadt, aber meine Erinnerung daran ist sehr vage, sie ist nur noch einer der vielen Schatten aus meiner Vergangenheit.
Meine Mutter hieß Fajgla. Sie war eine freundliche Frau und immer für mich da, wie man heute so sagt. Sie war eine gute Mutter, wie die meisten jüdischen Mütter. Damals war mir das nicht klar, aber ich war wohl ihr Lieblingskind. Oder vielleicht musste sie einfach nur mehr Zeit und Energie dafür aufbringen, mich zu verteidigen, so wie ich war. Kann sein. Sie trug manchmal den sheitel, aber sie war nicht so religiös wie mein Vater. Nathan war ihr ältester Sohn, zwei Jahre älter als ich. Uns verband eine Art Hassliebe, wie es bei fast gleich alten Brüdern oft der Fall ist. Wir hatten ein sehr unterschiedliches Temperament und haben uns gestritten, solange wir beide lebten. Ob ich ihn trotzdem irgendwie geliebt habe? Natürlich, er war ja mein Bruder. Und Blut ist dicker als Wasser, gerade auch in jüdischen Gemeinschaften.
Wenn ich nur wenig über meine anderen Geschwister erzähle, dann weil ich sie eigentlich nie richtig kennengelernt habe. Hendla war reizend, freundlich und intelligent. Sie war nie die große Schwester, die alles bestimmen wollte, weil sie wusste, dass das nicht funktionieren würde. Chana war ebenfalls sehr hübsch – ich war sechs Jahre alt, als sie geboren wurde. Dann gab es noch meine Brüder Majer, der drei Jahre jünger war, Wolf, der 1935 geboren wurde, und Josek, Jahrgang 1938. So sah unsere Familie aus: Großmutter Ruchla-Lea, Vater Lejbus, Mutter Fajgla und wir Kinder.
Man könnte vielleicht sagen, dass die Pivniks in den Dreißigerjahren die soziale Leiter hinaufstiegen. Wir hatten ein Radio und abonnierten eine Zeitung. Vaters Zeitung war jiddisch, Mutter und Hendla lasen auch noch eine polnische. Meine Großväter auf beiden Seiten waren Hausierer gewesen, Männer, die stundenlang durch die Straßen zogen, immer hinter ihren Pferdekarren her, und häufig ohne jeden Erfolg. Einer starb an der Cholera, der andere ertrank in einer dunklen Nacht auf dem Heimweg von einem Bauernhof. Er nahm eine Abkürzung, verirrte sich und fiel in den Fluss. Er wurde dreiundfünfzig Jahre alt. Mein Vater war dann schon Schneider, hatte also einen respektablen Beruf, der uns einen Handwerkerstatus verlieh. Seine Werkstatt mit den Stoffballen, Garnspulen und riesigen schweren Scheren ist heute kaum noch zu erkennen. Sie befand sich auf der anderen Seite des gepflasterten Hofs in der Nummer 77. Er arbeitete sechs Tage die Woche, fertigte Anzüge, Jagdjacken und Röcke. Mein Onkel Moyshe in Szopienice mit seinen buschigen Augenbrauen und den funkelnden Augen hatte sich auf Uniformen für Beamte spezialisiert. Damals trug jeder in Polen eine Uniform – Postbeamte, Bahnbeamte, Polizeibeamte, Feuerwehrleute. Selbst Armeeangehörige und Offiziere kamen mit Bestellungen: Paradeuniformen oder ganze Ausstattungen für den Dienst in der stolzesten Armee Europas. Ihre Geschichte reichte schließlich bis zu Marschall Poniatowski und die Lanzenreiter an der Weichsel zurück.
Ich höre immer noch das Summen aus der Werkstatt meines Vaters. Mutter, Hendla und Nathan arbeiteten dort mit, und auch ich, wenn die Nachfrage groß war oder mein Vater zu einem Gespräch mit dem Rabbi gegangen war. Wir besaßen nur eine Nähmaschine, die andere mussten wir verkaufen, um die Kosten für das Sanatorium aufzubringen, in dem ich wegen meiner Lunge eine Weile gelegen hatte. Nathan hatte auch noch eine andere Arbeitsstelle, aber wann immer er konnte, ratterte er mit seinem schicken Fahrrad durch die Stadt und lieferte die Waren meines Vaters aus. Ich erinnere mich auch noch an die Wohnungen, in denen wir lebten, und an den Hof, in dem sich schon vor meiner Geburt eine kleine Gemeinschaft entwickelt hatte. Die Häuser hatten sogenannte französische Dächer, und unsere Wohnung verfügte über zwei geräumige Zimmer und eine Küche. Ich schlief mit Nathan zusammen in einem Bett, und unsere Eltern teilten ihr Bett mit den kleineren Jungen. In dem anderen Zimmer, genauer gesagt, der Küche, schliefen Hendla und Chana sowie meine Großmutter Ruchla-Lea. Nach heutigen Standards war es ziemlich eng, aber irgendwie bereitete es uns auch auf das vor, was später kam.
Wir hatten eine gewisse „Aufwärtsmobilität“, wie man es heute nennen würde, aber wir hätten uns nie leisten können, die Wohnung zu kaufen. Vater hatte sie von Herrn Rojecki gemietet, einem nicht jüdischen Polen, der im ersten Stock über dem Torbogen wohnte, der sich zum Hof öffnete. Dort lebte er mit seiner Frau und einem unverheirateten Bruder. Er hatte keine Kinder, aber zwei kleine Hunde. Ich weiß nicht, welche Rasse das war, aber sie schienen immer zu frieren, denn sie zitterten mit ihrem kurzen Fell in den harten polnischen Wintern.
Herr Rojecki war ein sehr großer, dicker Mann, jedenfalls in meinen Kinderaugen. Er war katholisch und Mitglied einer rechten politischen Gruppe in der Stadt, wie ich heute weiß. Trotzdem war er freundlich zu allen Juden und beschützte seine Mieter rund um den Hof energisch. Und er entfachte in Nathan und mir eine neue Leidenschaft: Auf dem Dachboden über seiner Wohnung befand sich ein Taubennest, und Rojecki gestattete uns, dort einen Taubenschlag zu bauen. Es war etwas Besonderes mit den Tauben – ihre Federn sind so weich, wenn man sie streichelt, und ihr sanftes Gurren klingt irgendwie tröstlich.
Im Erdgeschoss war ein Lebensmittelladen, erinnere ich mich, und Vater stellte in einem der Schaufenster seine Waren aus. Ein anderer Laden im Hof verkaufte Sackleinen, und gegenüber lagen die Räume des Pferdehändlers Piekowski. Manchmal verkaufte er Pferde an die Artillerieeinheit, die in der Stadt stationiert war. Er stellte auch Stahlseile für die Industrie her.
Heute würde man in Bezug auf unseren Hof wohl von einer blühenden Heimarbeit sprechen. Es ging dort sehr geschäftig zu, überall gab es Kohlenkeller und jede Menge Kinder. Alle außer Rojecki hatten Kinder, und ich spielte mit ihnen Murmeln und Fußball, wir sprangen in die Pfützen und schlitterten auf dem Eis. Drei oder vier Häuser weiter gab es eine Gastwirtschaft, in der Essen, Erbsen und Bohnen und auch Bier verkauft wurden. In dieser Gemeinschaft kannte jeder jeden. Wir hatten denselben Glauben und alle gleichermaßen zu kämpfen, um die schwierigen ökonomischen Bedingungen der Dreißigerjahre zu meistern. Armut lauerte überall. In der Gastwirtschaft wurde angeschrieben, und die Stammgäste bezahlten, wenn sie konnten. An Samstagen gingen sie allerdings nie dorthin.
Im Rückblick kann ich sagen, dass drei Faktoren meine Kindheit in Będzin bestimmten: Zum einen die Familie, die ich, wie alle anderen, für selbstverständlich hielt, bis es zu spät war, um ihre Bedeutung zu genießen. Dann die Religion, und der dritte war die Bildung.
Früher, vor meiner Zeit, gingen Religion und Bildung Hand in Hand. Neben der großen Synagoge stand die Akademie, das Lehrhaus, das 1859 gebaut worden war, damit die Frommen jeden Tag kommen konnten, um zu lernen und zu beten. Im jüdischen Glauben gibt es Gebete für jede Minute des Tages auf der Grundlage der Davidpsalmen. Wenn ich von der Schule kam, sagte mein Vater immer: „Setz dich, wir wollen zusammen beten.“ Zur Zeit meines Großvaters war Reb Abram Litwik der Vorsteher der Schneider gewesen. Er hatte für sie in der Akademie Psalmen rezitiert: „Selig, wer in deinem Hause leben darf …“ Er ging immer als Letzter.
Damals lernten alle Jungen ab einem Alter von vier Jahren in der heder, einer Art religiöser Grundschule, wo sie mit „dem Buch“ vertraut gemacht wurden, den Lehren des Talmud und der Thora. Alle Texte mussten auswendig gelernt werden, und wehe dem Jungen, der nicht gut lernte. Als ich so weit war, hatte sich das alles etwas entspannt,