Die vermauerte Frau. Henner Kotte

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Die vermauerte Frau - Henner Kotte

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ausgesetzt wurde. Das Gericht beauftragte Dr. Clarus erneut, eine eingehende Untersuchung vorzunehmen und ‚alle auf die Beurteilung des Falles Bezug habenden Lebens-, Gesundheits- und Geistesumstände des Inquisiten‘ zu erkunden. Noch vor Abschluß der erneuten Untersuchung hatte der Verteidiger eine neue umfangreiche Verteidigungsschrift eingereicht und das Gericht gebeten, einen anderen Gutachter zu bestellen. Am 4. Oktober 1823 wies das Gericht diese erneuten Einwendungen zurück. Dem Verteidiger blieb nun nichts anderes übrig, als ein Gnadengesuch einzureichen. Die Landesregierung entschied am 23. Januar des folgenden Jahres, das Gnadengesuch sei in jedem Falle abzulehnen, dem Antrag auf Begutachtung des Falles durch die Leipziger Fakultät könne dagegen stattgegeben werden. Diese neue Entscheidung war wohl hauptsächlich durch den Wunsch des Gutachters Clarus bestimmt, die Verantwortung nicht allein tragen zu müssen. Er war nach wie vor von der Richtigkeit seiner Feststellungen überzeugt, sah sich aber jetzt bereits, noch während des schwebenden Prozesses, in der Fachwelt heftig kritisiert, so daß es ihm lieb sein mußte, die Autorität der Leipziger Medizin-Professoren für sich anführen zu können. Am 17. April gab die Leipziger medizinische Fakultät ihr Gutachten ab, worin sie die beiden Gutachten des Hofrats Clarus in vollem Umfange und mit allen Schlußfolgerungen akzeptierte. Damit war Woyzecks Schicksal entschieden.“ In Dresden hielt es der Neffe des Königs, der spätere König Friedrich August II., für gerechter, Woyzeck in eine „Versorgungsanstalt“, denn aufs Blutgerüst zu schicken. Es sei „ein geringeres Unglück, wenn hundert Schuldige mit dem Leben durchkommen, als wenn ein Einziger Unschuldiger ums Leben gebracht wird“. Allein der König war anderer Meinung: „Die Vollstreckung der Strafe soll gebührend nachgegangen werden“, ließ er das Leipzig Kriminalamt am 10. August 1824 wissen. Angesetzt wurde sie den 27. August 1824. Ab halber neun Uhr vormittags durfte man den Markt betreten.

      Am 20. August 1790 – fast auf den Tag genau vor 34 Jahren – war das letzte Todesurteil in Leipziger am Mörder Johann Heinrich Gottlob Jonas vollstreckt worden. 1823 war Woyzecks Hinrichtung drei Tage vor dem Termin abgesagt worden. Der Stadtrat ahnte, dass Menschenmassen der Urteilsvollstreckung beiwohnen wollten, und ließ am 23. August vorsorglich Plakate hängen: „Nächst bevorstehenden Freytag wird auf hiesigem Markte der zum Tode verurtheilte Delinquent Johann Christian Woyzeck hingerichtet werden. Wir dürfen nun zwar voraussetzen, daß sämtliche Bürger und Einwohner der Stadt Leipzig von selbst geneigt seyn werden, ihrerseits sich so zu benehmen, daß die gewohnte Ruhe und Ordnung, auch bei der eingangs erwähnten Execution in irgendeiner Art nicht gestöhrt werde, und es ist daher nur eine Erinnerung an die Mittel zur Erhaltung der Ruhe und Ordnung, wenn wir die gesamte hiesige Einwohnerschaft auffordern, sich selbst still zu bezeigen, und alle Ungelegenheit zu vermeiden, auch die Ihrigen, insbesondere Lehrpursche und Gesinde möglichst im Hause zu halten, ferner, daß diejenigen, welche auf dem Markt, wo die Execution erfolgen soll, sich begeben und letztere mit ansehen wollen, sich allen ungestümen Drängen schlechterdings enthalten. Sollte aber wider Erwarten irgendjemand dem entgegen handeln, so würde er die daraus entstehenden Unannehmlichkeiten und unausbleibliche Strafe sich selbst beimessen müssen. Zur Sicherung des Publikums ist die Anordnung getroffen worden, daß am 27. August, von früh sieben Uhr an bis nach beendigter Execution die sämtlichen inneren Stadttore für Wagen gesperrt werden, auch Wagen den Marktplatz und die dahinführenden Gassen schlechterdings nicht befahren dürfen, so wie wegen der Lebensgefahr, die für die Untenstehenden aus dem Herabfallen der Ziegel und sonst erwachsen könnte, hiermit auf das gemessenste und bey Vermeidung von zehn Talern Strafe untersagt wird, in den Häusern um den Marktplatz herum und in dessen Nähe die Dächer aufzudecken oder gar Gerüste anzubringen, auch dürfen während der Hinrichtung auf dem ganzen Marktplatze und in den Straßen und Gassen in dessen Nähe Wagen, Fässer und dergleichen für Zuschauer schlechterdings nicht aufgestellt werden.“ Es half nichts, der Marktplatz war übervoll. Man blickte aus Luken und Fenstern, rollte die Fässer, um auch von den hinteren Plätzen gut Sicht zu haben. Für Honoratioren gab es Eintrittskarten: „Eingang auf dem Naschmarkte durch die kleine Rathausthüre.“

      Die weiteren Wege waren vorgewiesen. „Heute vormittag von neun Uhr an wurde das hochnotpeinliche Halsgericht auf die nachstehend ausführlich beschriebene Tat abgehalten, der Inquisit Johann Christian Woyzeck vor dasselbe gestellt und von dem Herrn Criminalrichter Dr. Christian Adolph Deutrich befragt, ob er am 2ten Juni 1821 Johannen Christianen Woostin mit einem dolchähnlichen Instrument, wofür er bey sich geführt, mehrere Stiche in die Brust beigebracht habe und ob er dieser Tat nochmals geständig sey? Nachdem nun Woyzeck auf beide Fragen mit einem vernehmlichen Ja geantwortet hatte, wurde der Leibertod über ihn gesprochen, der Stab zerbrochen, Woyzeck dem Scharfrichter Johann Reinhard Körzinger übergeben und das Halsgericht aufgehoben. Woyzeck wurde sodann auf den Leipziger Markt zur Hinrichtung abgeführt.“ Dort bestieg die Delegation das aus Holz gezimmerte Schafott. Woyzeck machte in seinen letzten Augenblicken den Eindruck eines ungewöhnlich kaltblütigen Menschen. In einem späteren Nachtrag zu seinem Gutachten muss Clarus – gleichsam widerwillig – zugeben, Woyzeck habe „das Blutgerüst in einer Fassung bestiegen, als stiege er in einem Reisewagen“. Sein letztes Gebet hatte Woyzeck aufgesetzt und auswendig gelernt. „Vater, ich komme! Ja, mein himmlischer Vater, du rufst mich, dein gnädiger Wille geschehe, Dank, herzlicher Dank, Preis und Ehre sey dir, Allerbarmer, daß du bei aller meiner großen Schuld dennoch liebreich auf mich blickst und mich würdigst, dein zu seyn, Dank sey dir, daß du nach so vielen ausgestandenen Leiden die Thränen trocknest, deren ich dir so manche weinte. Vater! Ich befehle meinen Geist in deine Hände! Dir leb ich, dir sterb ich, dein bin ich tod und lebendig. Amen! Herr hilf! Herr laß es wohl gelingen!“ Es gelang wohl.

      „Im Theater mag der entzückte Zuschauer dem Mimen durch Beifallzeichen lohnen: hier unterbreche nichts die tiefe Stille, hier störe nichts die ängstlich schlagenden Herzen, hier bete der Christ für des Sünders und für seine Seele! Hier preise der Christ, beseelt von heißem Dankgefühle, die allwaltende Güte Gottes, die ihn bis jetzt bewahrte, und er flehe die Fürsehung an, rein und frei von lastender Schuld stets aufblicken zu können.“ Trotzdem schickte die Mehrzahl der Versammelten ein schallendes „Bravo!“ in die Lüfte. Der sächsische Scharfrichter Johann Nicolaus Körzinger „hieb mit so großer Geschicklichkeit und so schnell Woyzecks Kopf ab, sodaß er noch auf dem breiten Schwerte saß, bis der Scharfrichter das Schwerdt wendete und er herabfiel. Der Leichnam wurde sodann in das Theatrum anatomicum abgeführt.“ Anatomische Übungen waren nur an unreinen Körpern gestattet.

      Leben, Tat und Schicksal dieses Mörders „stehen in einem großen Zusammenhang: im Übergang zwischen zwei Formen der Beurteilung der menschlichen Seele und ihrer Geheimnisse, zwischen der Flucht in das Undeutbare und dessen plumper Deutung aus dem Körperlichen, zwischen der idealistischen, romantischen, okkultistischen Deutung des Seelischen und seiner Zurückführung auf Stoffwechsel und Blutkreislauf.“ Und trotzdem wurde Woyzeck „in erster Linie nicht ein Opfer der damaligen Erkenntnisse der Medizin, sondern vielmehr ein Opfer der damals noch unzulänglichen Gerichtsbarkeit“, denn die Definitionen und Systematik der Psychiatrie waren noch nicht gefasst. Eine unzureichende Diagnostik kann dem Dr. Clarus nicht zum Vorwurf gemacht werden. Nach heutigen Maßstäben hätten dem Mörder mildernde Umstände ohne Zweifel zugestanden. So ist auch die Wirkung dieses Kriminalfalles auf die Zeitgenossen zu begreifen. Die Diskussion „erklärt die Bedeutung, die jener im Grunde banale Mord, eine Tat aus den ‚Vermischten Nachrichten‘ für die Seelenforscher der Zeit, und nicht nur für die Fachgelehrten, gewinnen konnte. Das erklärt auch die Verwandlung jenes ‚fait divers‘ in ein ewiges Werk deutscher Dichtung, in eine ihrer kühnsten und großartigsten Gestaltungen: Georg Büchners Woyzeck-Drama.“ Büchner hat die Gutachten des Hofrats Clarus gekannt, das geht aus den verschiedenen Fassungen des Dramas klar hervor. Und Clarus war nicht der einzige Mediziner, der sich zum Fall äußerte. Die in den Gutachten „berichteten Lebensumstände und überlieferten Äußerungen des historischen Woyzecks kehren größtenteils im Werk wieder, sind gewandelt und aufgelöst … Vermutlich las Büchner die Berichte des Hofrats in Henkes ‚Zeitschrift für Staatsarzneikunde‘. Der Vater Ernst Büchner war Mitarbeiter dieser Zeitschrift und besaß die gesammelten Jahrgänge.“

      Im Fragment gebliebenen Drama wird der Getriebene, der Gedemütigte, der Außenseiter Held. Erst zu Georg Büchners 100. Geburtstag 1913 wurde das Schauspiel am Münchner

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