Die vermauerte Frau. Henner Kotte
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„Ohhh Einsamkeit! / Sieh, oh, das Feuermal meines Leids!“, schreit der „Ringende“ in Johannes R. Bechers Kleist-Hymne. Auch dieser Autor versuchte 1910 in München, sich und seine sieben Jahre ältere Geliebte zu töten. Er schoss verabredungsgemäß zuerst auf sie und dann auf sich selbst. Die Frau starb. Becher überlebte. Offensichtlich war die Tat dem Vorbild Kleists nachgetan. Becher wurde wegen Tötung auf Verlangen angeklagt. Er entging jedoch der Verurteilung, sein Vater war Richter am Landgericht München und ließ den Sohn für unzurechnungsfähig erklären. Jahrzehnte später überzeugte Becher Fallada, am Aufbau des Sozialismus in der sowjetischen Besatzungszone mitzuhelfen. „Fühlte bebend meine schmerzhafte / Einsamkeit und das grausam / Lohende Herz der Erde durch die Nacht.“
Die Beispiele solch zwiefachen Freitods sind fortzuführen. „Was nützt die Liebe in Gedanken“ folgt der Steglitzer Schülertragödie. Wegen der Ausweglosigkeit ihrer Liebesbeziehungen verabredeten sich vier Schüler 1927 zum gemeinsamen Selbstmord. Kronprinz Rudolf und Marie Vetsera, Stefan und Charlotte Zweig, Adolf Hitler / Eva Braun, Gert Bastian/Petra Kelly, Eberhard und Helga von Brauchitsch, Senta Berger und Bruno Ganz im Film „Satte Farben vor Schwarz“. Auch in Telenovelas, Soaps, der „Lindenstraße“ und dem „Tatort“ war Doppelselbstmord Thema. Die jungen Helden in Igor Bauersimas Zweipersonenstück „Norway today“ kommen übers Internet in Kontakt. Sie vereinbaren ein Treffen zu ihrem Sprung vom Preikestolen, einem 600 Meter hohem Felsplateau in Norwegen. Die letzte Regieanweisung lautet: „Beide ab.“
1. Januar 2004: „Eine junge Polizistin und ihr befreundeter Kollege haben sich in der Neujahrsnacht im schwäbischen Merching mit der Dienstwaffe erschossen. Die Leichen der 22-Jährigen und des zwei Jahre jüngeren Beamten der Bereitschaftspolizei wurden am Donnerstagmorgen auf einer Wiese nahe einem Wohngebiet der kleinen Gemeinde gefunden. Die beiden Berufsanfänger waren ledig, aber nach Angaben der Polizei eng befreundet. Als Motiv gilt eine Beziehungskrise. Die Frau hatte sich die Tatwaffe zuvor in ihrer Dienststelle geholt.“
5. Dezember 2006: „Zwei Polizeibeamte haben in der Nacht zum Dienstag kurz vor Mitternacht einen Doppelselbstmord am Münchner U-Bahnhof Westfriedhof verhindert. Der Mann hatte zuvor bei der Polizei angerufen und erklärt, seine Freundin plane, sich dort vor die U-Bahn zu werfen. Vor Ort machte er den Eindruck, dies ebenfalls tun zu wollen. Hand in Hand schritten die beiden auf das Gleis zu, als die U-Bahn einfuhr. Sie konnten von den Beamten zurückgezogen werden.“
2. Juni 2007: „Vor einigen wahrlich entsetzten Augenzeugen sprang in Nürnberg-Langwasser ein junges Paar von einem der Hochhäuser der Zugspitzstraße in den Tod. Zeugenberichten zufolge hat es sich hierbei um eine 16-jährige und ihren wohl gleichalten Freund gehandelt. Die Polizei entdeckte nach weiteren Untersuchungen einen Abschiedsbrief. Nähere Details gab sie allerdings nicht bekannt. Unklar ist weiterhin, wie es den beiden möglich war, in das Hochhaus und vor allem auf das Dach zu kommen. Ein Pressesprecher der Polizei ließ lediglich verlauten, dass sich ein Doppelsuizid Jugendlicher ereignet habe.“
„‚Es ist so gut wie getan, es nimmt dich niemand mehr aus meiner Hand als der Tod!‘ rief Sali außer sich. Vrenchen aber atmete hoch auf, Tränen der Freude entströmten seinen Augen; es raffte sich auf und sprang leicht wie ein Vogel über das Feld gegen den Fluß hinunter. Sali eilte ihm nach; denn er glaubte, es wolle ihm entfliehen, und Vrenchen glaubte, er wolle es zurückhalten. So sprangen sie einander nach, und Vrenchen lachte wie ein Kind, welchen sich nicht will fangen lassen. ‚Bereust du es schon?‘ rief eines zum andern, als sie am Flusse angekommen waren und sich ergriffen; ‚Nein! Es freut mich immer mehr!‘ erwiderte ein jedes. Aller Sorgen ledig, gingen sie am Ufer hinunter und überholten die eilenden Wasser, so hastig suchten sie eine Stätte, um sich niederzulassen; denn ihre Leidenschaft sah jetzt nur das Rauschen der Seligkeit, der in ihrer Vereinigung lag, und der ganze Wert und Inhalt des übrigen Lebens drängte sich in diesem zusammen; was danach kam, Tod und Untergang, war ihnen ein Hauch, ein Nichts, und sie dachten weniger daran, als ein Leichtsinniger denkt, wie er den andern Tag leben will, wenn er seine letzte Habe verzehrt.“
Ein Hauch im Nacken
Öffentliche Hinrichtungen waren Volksfeste. Würstchen wurden verkauft, Bier ausgeschenkt. Der Bürgermeister sah sich veranlasst, zur Besonnenheit des Publikums aufzurufen. 1854 hatte man die Guillotine auf den Gerberwiesen vor Leipzigs Stadttoren aufgestellt. Carl August Ebert hatte in der Stadt geraubt und gemordet. Als man ihn endlich überführte, war sein Strafregister länger, und er war bereits andernorts „zum Tod durchs Rad von unten herauf“ verurteilt worden. In Leipzig vollstreckte man’s durchs Fallbeil. Es war die letzte öffentliche Hinrichtung in der Stadt. Unter dem Hurra der Massen fiel August Eberts Kopf. Todesurteile allerdings wurden in Leipzig bis 1981 vollstreckt.
„Das Schafott, zu welchem drei Stufen in die Höhe führten, war vielleicht vier- bis fünfhundert Schritt von dem Ufer der Parthe errichtet … Wagen und Stände mit Kaffee-, Bier- und Schnapsverkäufern; Händler mit Semmeln, Kuchen, Brot, Fleischwaren und Wiener Würstchen wechselten mit Kolporteuren, welche Mordtaten und Hinrichtungen in Poesie und Prosa laut zum Verkaufe anboten, ab. Alles lachte, drängte und machte mehr oder minder rohe und zweideutige Witze. Mehrere industriöse Leute waren mit ganzen Wagen voll Stühlen und Holztischen erschienen, welche sie an die Zuschauer vermieteten und wobei sie reißenden Absatz fanden.“ Ein Volksfest angesichts des Todes. „Trotz des regnerischen Wetters und des durchweichten Bodens des Platzes hatten sich doch 20 000 Menschen, eher mehr denn weniger, allein fast ausschließlich der unteren Classen angehörend, als Zuschauer eingefunden. Bei der Ankunft des Gerichtszuges begaben die richterlichen Personen sich auf die für dieselben errichtete Tribune. Der Delinquent, welchen Herr Archidiakonus Dr. Tempel bis an das Schafott begleitete, bestieg dasselbe anscheinend gelassen, und nach einer von Herrn Criminalrichter Dr. Rothe gehaltenen kurzen Ansprache an die Versammlung hatte die Execution ohne die mindeste Störung ihren ernsten und raschen Verlauf. Die versammelte große Menschenmenge verhielt sich ruhig und schweigsam und entfernte sich ebenso, ohne daß, wie rühmend anzuerkennen ist, die geringste Unzüglichkeit vorkam.“
Es war die letzte öffentliche Hinrichtung in Leipzig. Sie fand am 16. Juni 1854 auf den Gerberwiesen statt. Diese lagen hinter dem Gerbertor an den Gleisen der Magdeburger Eisenbahn und der Berliner Straße, „welche damals außer der Scharfrichterei und einem kleinen Häuschen der Damenbadeanstalten im Gerbergraben kein einziges Wohnhaus aufzeigte“. Enthauptet wurde der Brandstifter und dreifache Mörder Carl August Ebert durch die Guillotine.
„Sie spüren nicht den leisesten Schmerz, höchstens einen ganz kurzen Hauch über dem Nacken“, hatte Dr. Joseph Ignace Guillotin die von ihm erdachte Weiterentwicklung des Fallbeils der französischen Nationalversammlung vorgestellt. Paradoxerweise war der Namensgeber „an der eigentlichen Konstruktion gar nicht beteiligt. Es stellte sich nämlich heraus, daß er ein reiner Theoretiker war und nicht imstande, die von ihm so eifrig vorgeschlagene Köpfmaschine technisch exakt zu entwerfen. Der französische Generalprokurator Roederer mußte daher im Februar 1792 einen Kollegen Dr. Guillotins, den Chriurgen Dr. Louis, mit der Konstruktion beauftragen. Die technisch-handwerkliche Ausführung besorgte schließlich der deutsche Klavierbauer Tobias Schmidt, der mit