Stiefelschritt und süßes Leben. Klaus Muller

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Stiefelschritt und süßes Leben - Klaus  Muller

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geflissentlich zu übersehen.

      Ich entdeckte zwei Flaschen Beaujolais in einem ansonsten völlig leeren Regal. Beaujolais rangierte damals, noch vor sowjetischem Sekt, als höchste Delikatesse. Mich erinnerte er an genussvolle Abende mit Bruni, aber auch an das Weinstädtchen Clochemerle mit seinen sympathischen Bewohnern, die ich allerdings nur aus dem bekannten Roman von Gabriel Chevalier kannte, und das ich, da es auf NATO-Gebiet stand, nach dem Willen der Armeeführung zu gegebener Zeit, bei der „Vernichtung des Aggressors auf seinem eigenen Territorium“, mit meiner Haubitze zerdeppern sollte.

      Die beiden einsamen Flaschen standen in Griffhöhe; ich würgte also eine davon in meine Hosentasche. Das ließ der Hauptmann jedoch nicht durchgehen, befahl mir, die Rotweinflasche sofort wieder ins Regal zu stellen. In versöhnlichem Tone erläuterte er, das seien die beiden letzten, denn die Franzosen lieferten nicht mehr; nun seien sie ausschließlich für den Genossen Walter Ulbricht reserviert, wenn der zur Sitzung des Nationalen Verteidigungsrates im Ministerium erscheine.

      *

      Dann erschien der indonesische Luftmarschall mit großem Gefolge, wurde mit allem militärischen Brimborium empfangen: mit Ehrenkompanie, Salutschüssen und lärmendem Militärorchester. Er war ein mickriges kleines Kerlchen in einer exotischen Phantasieuniform, seine Begleitung war nicht anders.

      Die Feierlichkeiten anlässlich des hohen Besuches, bei denen auch einige sowjetische Generäle zugegen waren, verlief wie gewöhnlich. Ansprachen wurden gehalten, wobei der Luftmarschall, über seinen Dolmetscher, bittere Klage über die imperialistischen Kolonialherren führte, die ihm auf der Militärakademie nur Englisch, kein Deutsch beigebracht hätten. Natürlich wurde die antiimperialistische Solidarität beschworen.

      Das Blabla ging noch eine Weile, dann hob ein Besäufnis an, das den leichtgewichtigen Asiaten nicht gut bekommen sollte.

      Hier kommt bei mir wieder der Mathematiker durch, eigentlich nur der Grundschüler, der das Einmaleins gepaukt hat: Wenn sich ein großer, dicker russischer General von 125 Kilogramm Lebendgewicht 100 Gramm („sto gramm“) Wodka von 45 Volumenprozent hinter die Binde kippt, hat er gerade mal 0,36 Promille intus, wenn hingegen der winzige Indonesier, mit gerade mal 88 Pfund, die gleiche Menge Wodka konsumiert, ist er mit 1,02 Promille schon längst fahruntüchtig. In diesem Verhältnis befand sich auch der Trunkenheitsgrad der Teilnehmer dieser antiimperialistischen Veranstaltung, zumal bei Toasts in Militärkreisen immer ausgetrunken werden muss. Wir vier Abkommandierten schenkten wahrlich immer fleißig ein.

      Am nächsten Tag setzte sich das Treffen der Militärs erst am frühen Nachmittag fort; der Alkohol wollte und wollte aus den Körpern der Indonesier nicht weichen. Nach der Mittagstafel zog sich die Generalität – Armeegeneral Heinz Hoffmann war jetzt mit dabei – in die Tagungsräume zurück, zu denen wir Ordonnanz-Kräfte keinen Zutritt hatten.

      Nach dem Abendessen, das wir in der Art eines russischen Buffets auf der U-förmigen Tafel angerichtet hatten, wollten die Gäste abreisen. Über seinen Dolmetscher beklagte sich der Luftmarschall über die Unzuverlässigkeit der westlichen Flugzeugtechnik, die bislang in seinen Hangars steht; von diesen Jets fielen ihm jedes Jahr mehrere vom Himmel. Der Landsknechttyp Stechbarth brüllte über die Tafel: „Das passiert bei uns auch, dafür sind wir ja Soldaten!“

      Die Gäste erhoben sich, machten in strammer Haltung noch einige nichtssagende Bemerkungen über die Freundschaft und die antiimperialistische Solidarität und entfleuchten in ihr fernes Inselreich.

      Danach eilte unser Hauptmann auf uns zu und sagte, noch bevor wir die Tafel ordnen konnten: „Jetzt für jeden Wodka, nur General Riedel und Stechbarth trinken Kognak!“

      Die Sauferei hob wieder an, und die Zungen der hochrangigen Militärs lösten sich. Nach einem kräftigen Schluck Wodka meinte Hoffmann gewichtig: „Wenn jetzt dieses große Land auch noch auf unsere Seite tritt, sieht es weltpolitisch ganz anders aus!“

      Ich dachte mir, dieser Barnabas mit seinem jämmerlichen Heer hat weltpolitische Tagträume.

      *

      Ich muss hier zeitlich einen fünfmonatigen Sprung nach vorn machen. In der ersten Septemberwoche 1965 las ich im „ND“ vom Untung-Putsch in Indonesien und dessen blutiger Niederschlagung, bei der fast alle indonesischen Kommunisten ausgerottet wurden und die Suharto an die Macht brachte. Die Brutalität dieser Niederschlagung hatte amerikanische Filmemacher zu einem vielbeachteten filmischen Meisterwerk inspiriert.

      Nun hörte ich die Bemerkung von Hoffmann mit anderen Ohren. Sollten diese Leute in Strausberg den Putschversuch ausgeheckt haben? Ich habe später in der Universitätsbibliothek in Rostock, wo das „Neue Deutschland“ fein säuberlich archiviert war, die Ausgaben von April und Mai 1965 nach einem Pressehinweis auf diesen Militärbesuch durchforstet. Ich fand aber nichts. Der Luftmarschall und die anderen Verschwörer waren demnach nicht in offizieller Mission in der DDR, denn sonst hätte die SED-Presse garantiert damit geprahlt. Immerhin war 1965 tiefste Hallstein-Doktrin-Ära.

      *

      Doch wieder zurück nach Strausberg.

      Es folgten das Festbankett zum erfolgreichen Abschluss der 1.-Mai-Parade und die Feiern zum Tag der Befreiung am 8. Mai, der im Jahre 1965 zum 20. Mal und auch letztmalig als offizieller Feiertag begangen werden sollte. (Durch die geplante Einführung der Fünftagewoche mit 43 dreiviertel Stunden Arbeitszeit wurden vier Feiertage gestrichen: der 8. Mai, Himmelfahrt, Ostermontag sowie Buß- und Bettag.)

      Bei den obigen Festlichkeiten wurde natürlich wieder kräftig gesoffen. Wir Abkommandierten hatten zu tun, nahmen auch selbst so manchen Schluck aus der Pulle.

      Bei der Sauferei der Generalität war Hoffmann nicht unbedingt der trinkfreudigste, er saß lieber auf seinem Stuhl und ließ sich von seinen devoten Generälen mit Trinksprüchen und Toasten feiern. Dieser Mann, der auch schon mal vom „gerechten Atomkrieg“ faselte, hatte ein bewegtes Leben hinter sich; war Rot-Front-Kämpfer gewesen, hatte am Spanienkrieg teilgenommen, ebenso am Fronteinsatz bei der Sowjetarmee, und war nun Armeechef der NVA. Die servilen Generäle und Obristen förderten alle naselang eine Heldentat aus dem Leben ihres Chefs zutage, auf die ein Glas geleert werden musste.

      Da die Teilnehmer alle der europiden Rasse angehörten, die seit der Bronzezeit, vor 5.000 Jahren, an Alkohol gewöhnt, Alkoholverträglichkeitsgene in sich trägt, alle über 1,70 Meter maßen und wenigstens 75 Kilo wogen, blieben Volltrunkenheitszusammenbrüche, trotz der maßlosen Sauferei, aus. Ich erinnere mich noch eines alten weißhaarigen Obersten, der, aufrecht stehend, zu mir sagte: „Was ist denn das hier für eine Sauferei, die sitzen ja alle wie die Zivilisten in ihren Kneipen, damit sie nicht so weit fallen müssen, hä, hä, hä. Ein Soldat hat beim Saufen zu stehen, klar!“

      *

      Es gab aber nicht nur Alkohol im Ministerium, es liefen auch viele ansehnliche weibliche Wesen in den Gebäuden herum; Sekretärinnen, Köchinnen und Serviererinnen für die Kantine. In der kalten Küche des Kantinentraktes hantierte ein besonders strammes und ansehnliches junges Weib von Anfang zwanzig. Anfangs tat sie unnahbar, dann gewährte sie Einblick in ihr Dekolleté mittels eines betont leger geschlossenen Kittels, bald schubste sie mich mit ihren herrlich weiblichen Hüften. Wen wundert’s, dass ich mich bei jeder Gelegenheit in der Küche herumtrieb und versuchte, mich dort nützlich zu machen. Als ich einmal für sie ein größeres Gefäß mit beiden Händen von einem hochgelegenen Bord herunterhob, schob sie mir zärtlich einen Oberschenkel in den Schritt. Ich hätte fast das Gurkenglas fallengelassen.

      Jetzt war ich außer Rand und Band, wollte sie umarmen. Sie wehrte mich ab, sagte: „Jetzt nicht, ich habe zu arbeiten, komm doch heute Abend zu mir!“

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