Gorbatschow. Ignaz Lozo
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Horst Teltschik hält dagegen, dass Gorbatschow als Gastgeber die DDR-Seite hätte einladen können, was er aber nicht tat. Er meint, dass Gorbatschow deshalb so agierte, weil er mit der Bundesregierung indirekt auch über Finanzhilfen reden wollte sowie über den „Großen Vertrag“ zwischen den Sowjets und den Deutschen, der dann im November 1990 in Bonn auch unterzeichnet wurde.22 Fakt ist, dass zum Zeitpunkt der Kaukasus-Reise die DDR über keine Finanzhoheit mehr verfügte, da die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion mit der Bundesrepublik zwei Wochen zuvor, am 1. Juli 1990, in Kraft getreten war.
Auf der Pressekonferenz in Schelesnowodsk unterstreicht Gorbatschow Deutschlands Atomwaffen-Verzicht, die drastische Reduzierung der Bundeswehr, aber vor allem die Bedeutung der Beschlüsse vom Londoner NATO-Gipfel, der zehn Tage zuvor zu Ende gegangen war – weg von einem rein militärischen Bündnis, hin zu einem mehr politischen. Und er erinnert daran, dass das östliche Bündnis Warschauer Pakt den ersten Schritt gemacht habe mit der Veränderung seiner Militär-Doktrin: „Das, was in London vor sich ging, war in der Tat so etwas wie der Anfang einer neuen historischen Entwicklung. Wir unterstreichen, dass dieser Kontext auch sehr wichtig ist. – Wenn also nicht dieser zweite Schritt in London gemacht worden wäre, wäre es sehr schwer gewesen, bei unserem gestrigen und heutigen Treffen weiter zu gehen.“23
Immer wieder hatte schon der sowjetische Außenminister Schewardnadse in den Wochen vor Archys die Bedeutung des Nato-Gipfels für die Moskauer Kompromissbereitschaft in der deutschen Frage hervorgehoben.24 Obwohl die NATO-Deklaration nicht explizit die Wandlung des Bündnisses in eine politische Gemeinschaft beinhaltete und vielmehr Absichtserklärungen und Angebote im Geiste der neuen Freundschaft zwischen Ost und West zum Gegenstand hatte, fassten die Vertreter der Sowjetunion es gern und zu Recht so auf. Und sie konnten jetzt vor allem gegenüber der eigenen Bevölkerung von einer grundlegenden Veränderung der NATO sprechen, die nicht mehr eine Bedrohung darstelle, sondern ein Freund und Partner sei.
Das internationale Presse-Echo auf das historische Kaukasus-Treffen zwischen Gorbatschow und Kohl ist überwältigend. Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel titelt mit einem Foto von Gorbatschow und Kohl: „Der Krieg ist zu Ende“, was keine Übertreibung ist. Denn mit dem Ende der Teilung Deutschlands ist auch die Teilung des europäischen Kontinents nach 45 Jahren überwunden.
Gorbatschow und die sowjetische Delegation begleiten die Deutschen zum nahe gelegenen Flughafen in Mineralnije Wody. Der Kreml-Chef hatte den Besuch des Bundeskanzlers bezeichnet als eines „der bedeutendsten internationalen Ereignisse, die mit den grundlegenden Veränderungen in der europäischen und in der Weltpolitik verbunden sind“.25 Entsprechend teilen das Glücksgefühl Kohls über das Erreichte wohl auch die meisten deutschen Journalisten, die die Luftwaffen-Boeing besteigen. Am nächsten Tag tritt der Bundeskanzler in Bonn vor die Presse, und die Journalisten spenden ihm alle Beifall, obwohl so etwas dieser Berufsgruppe eigentlich wesensfremd ist. In Paris kamen zur gleichen Zeit die Außenminister der Zweiplus-Vier-Verhandlungsstaaten zusammen – Markus Meckel für die DDR. Sein sowjetischer Kollege Schewardnadse habe dort ein schlechtes Gewissen gehabt, weil er, Meckel, als DDR-Vertreter und Verbündeter keine unmittelbare Unterrichtung durch die Sowjets erhalten hatte über die Ergebnisse von Archys.26
Das Ehepaar Gorbatschow reiste nach dem historischen deutschsowjetischen Kaukasus-Treffen in privater Angelegenheit weiter, was angesichts der innenpolitischen Turbulenzen und der Arbeitsbelastung von Michail Gorbatschow längere Zeit nicht möglich gewesen war. Sie besuchten in Priwolnoje die 79-jährige Mutter des Staatschefs, Maria Pantelejewna Gorbatschowa.
2. KINDHEIT UND JUGEND IM NORDKAUKASUS
Ein ausländischer Besucher, der heute zu Recherchezwecken in Gorbatschows Heimatdorf Priwolnoje reisen möchte, muss das vorher unbedingt mit dem Ortvorsteher abstimmen. Selbst Gorbatschows Cousine Maria Michalowa ist nur zu einem Interview bereit, als sie erfährt, dass eine entsprechende Erlaubnis vorliegt. Priwolnoje liegt in Südrussland zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer, und Gorbatschows Elternhaus befand sich ganz am Ende dieses Dorfes. Die lang gezogene schmale Straße dorthin ist heute asphaltiert und von einer Reihe fester, elektrifizierter Ziegelstein-Häuser gesäumt – ganz anders als in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Die Behausung, in der Michail Gorbatschow am 2. März 1931 zur Welt kam, ein Montagskind mit Sternzeichen Fisch, steht nicht mehr. Er kam in einer sogenannten Chata zur Welt. Das ist eine Art Hütte aus Ton oder Lehm, die in Belarus (Weißrussland), der Ukraine, in West- und Südrussland typisch war. Die Dächer bestanden meist aus Stroh, und Betten gab es darin nicht, bestenfalls Schlafgestelle.
Iwan Budjakow, Ende 1930 geboren, besuchte mit Michail Gorbatschow die Grundschule. Iwans Familie war noch ärmer als die seines Freundes Michail, den er oft daheim besuchte. Iwan hat immer in Priwolnoje gewohnt, und gern zeigt er den Acker, auf dem die Chata einst stand: Vom Ende der Dorfstraße sind es etwa 30 Schritte bis zu der Stelle, wo früher das kleine Grundstück der Gorbatschows lag, das nun Teil des Ackers ist. „Genau hier. Auf dieser Stelle wurde er geboren. Die Chata wurde abgerissen, nachdem er zum Studieren nach Moskau ging. Er konnte gut singen und Balalaika spielen. Die hatte ihm sein Vater gekauft. Von Michail lernte ich auch ein biss-28 chen zu spielen. Wir kletterten auf den Ofen und dann sangen wir zur Balalaika […].“1
Iwan Budjakows Mutter war so bitterarm, dass der Sohn bald keine richtige Kleidung und keine Schuhe mehr bekam, geschweige denn Schulbücher. Noch in der ersten Klasse musste er die Grundschule abbrechen. Doch mit seinem Freund Michail blieb er sein Leben lang verbunden, auch wenn sie sich nur selten sahen. Als Iwan im Oktober 2016 im Alter von knapp 86 Jahren starb, widmete ihm sein da schon lange weltberühmter Freund einen persönlichen Nekrolog auf seiner Website gorby.ru.2 Dieser Nachruf ist ein Beleg dafür, dass der ehemalige Führer der Supermacht Sowjetunion nie vergaß, woher er kam, und dass ihm Statusfragen privat völlig unwichtig waren.
Gorbatschows Mutter Maria, die ihren Sohn im Alter von knapp 20 Jahren zu Welt brachte, war Ukrainerin. So wie viele aus ihrer Generation lernte auch sie nie lesen und schreiben. Als die Bolschewiki 1917 unter der Führung Lenins die Macht übernahmen, waren 75 Prozent der russischen Landbevölkerung Analphabeten. Gorbatschows russischem Vater Sergej war es immerhin vergönnt, vier Jahre die Schule zu besuchen.
Maria war 18, Sergej 20 Jahre alt, als sie 1929 heirateten. Obwohl die Herrschaft der Sowjets zum Zeitpunkt der Eheschließung schon zwölf Jahre währte und die Machthaber sich entsprechend der kommunistischen Ideologie die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau auf die Fahnen geschrieben hatten, wurden vor allem in den Dörfern alle wichtigen Fragen nach wie vor von den männlichen Familienältesten entschieden. Michail Gorbatschow erzählte 2015: „Meine Mutter wollte meinen Vater nicht heiraten. Sie liebte ihn nicht stark genug. Mit der Zeit wurde es aber eine glückliche Ehe. Meine beiden Großväter hatten sich zusammengesetzt, alles beiseitegeschoben und verfügt: ,Ihr werdet heiraten! Basta!‘“ Und in Anspielung auf die propagierte Sozialistische Demokratie in Form der Diktatur des Proletariats, die in sowjetischen Dörfern in Wirklichkeit eine Diktatur des Patriarchats geblieben war, fügte er lachend hinzu: „So funktionierte Demokratie damals!“3
Das Einmischen, ja die Bevormundung aufgrund des männlichen Senioritätsprinzips setzte sich noch fort: Nachdem die Jungvermählten Maria und Sergej ihren Sohn bekamen, einigten sie sich auf den Namen Viktor. „Ich hieß zwei Wochen lang Viktor“, gibt Gorbatschow die Erzählungen seiner Eltern wieder. Mutter Maria war sehr gläubig und wollte ihn heimlich taufen lassen. Großvater Andrej Gorbatschow brachte den Säugling in die Dorfkirche