Caspar Hauser. Jakob Wassermann

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Caspar Hauser - Jakob Wassermann

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      Nach regnerischen Stunden mit Daumer aus dem Tor tretend, gewahrte Caspar einen Regenbogen am Himmel, Er war starr vor Freude. Wer das gemacht habe, stammelte er endlich. Die Sonne. Wie, die Sonne? Die Sonne sei doch kein Mensch. Die natürlichen Erklärungen ließen Daumer im Stich, er mußte sich auf Gott berufen. »Gott ist der Schöpfer der belebten und unbelebten Natur«, sagte er.

      Caspar schwieg. Der Name Gottes klang ihm seltsam düster. Das Bild, das er dazu suchte, glich dem Du, sah aus wie der Du, als die Decke des Gefängnisses auf seinen Schultern ruhte, war unheimlich verborgen wie der Du, als er den Schlag geführt, weil Caspar zu laut gesprochen.

      Wie geheimnisvoll war alles, was zwischen Morgen und Abend geschah! Das Regen und Raunen der Welt, das Fließen des Wassers im Fluß, das Ziehen luftig-dunkler Gegenstände hoch in der Luft, die man Wolken nannte, das Vorübergehen und Nichtwiederkommen undeutbarer Ereignisse, und vor allem das Flüchten der Menschen, ihre schmerzlichen Gebärden, ihr lautes Reden, ihr sonderbares Gelächter. Wie viel war da zu erfahren und zu lernen!

      Es schnürte Daumer das Herz zusammen, wenn er den Jüngling in tiefem Nachdenken sah. Caspar schien dann wie erfroren, er hockte zusammengekauert da, seine Hände waren geballt, und er hörte und spürte nicht mehr, was um ihn vorging.

      Ja, es war zu solchen Zeiten eine vollständige Dunkelheit um Caspar, und nur, wenn er lange genug versunken war, hüpfte aus der Tiefe etwas wie ein Feuerfunken, und in der Brust begann eine undeutlich murmelnde Stimme zu sprechen. Wenn der Funken wieder verlosch, tat sich die äußere Welt wieder kund, aber eine schwermütige Unzufriedenheit hatte sich Caspars bemächtigt.

      »Wir müssen einmal mit ihm hinaus aufs Land«, sagte Anna Daumer eines Tages, als der Bruder mit ihr darüber gesprochen. »Er braucht Zerstreuung.«

      »Er braucht Zerstreuung«, gab Daumer lächelnd zu, »er ist zu gesammelt, das ganze Weltall lastet noch auf seinem Gemüt.«

      »Da es sein erster Spaziergang sein wird, wäre es gut, die Sache möglichst still zu unternehmen, sonst sind wieder alle Neugierigen bei der Hand«, meinte die alte Frau Daumer. »Sie schwatzen ohnehin genug über ihn und über uns.«

      Daumer nickte. Er wünschte nur, daß Herr von Tucher mit von der Partie sei.

      Am ersten Feiertag im September fand der Ausflug statt. Es war schon fünf Uhr nachmittags, als sie vom Haus aufbrachen, und da sie auf Caspars langsame Gangart Rücksicht nehmen mußten, gelangten sie erst spät ins Freie. Die begegnenden Leute blieben stehen, um der Gesellschaft nachzuschauen, und oft hörte man die staunenden oder spöttischen Worte: »Das ist ja der Caspar Hauser! Ei, der Findling! Wie fein ers treibt, wie nobel!« Denn Caspar trug ein neues blaues Fräcklein, ein modisches Gilet, seine Beine staken in weißseidenen Strümpfen, und die Schuhe hatten silberne Schnallen.

      Er ging zwischen den beiden Frauen und hatte sorgsam acht auf den Weg, der nicht mehr wie ehedem vor seinen Blicken auf- und abwärts schwankte. Die Männer schritten in gemessener Entfernung hinterdrein. Plötzlich erhob Daumer den rechten Arm nach vorn, und gleich darauf blieb Caspar stehen und sah sich fragend um.

      Erfreut in liebevollem Ton rief ihm Daumer zu, weiterzugehen. Nach ein paar hundert Schritten hob er wieder den Arm, und abermals blieb Caspar stehen und blickte sich um.

      »Was ist das? Was bedeutet das?« fragte Herr von Tucher erstaunt.

      »Darüber gibt es keine Erklärung«, antwortete Daumer voll stillen Triumphes. »Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen noch viel Merkwürdigeres zeigen.«

      »Hexerei wird doch wohl kaum im Spiele sein«, meinte Herr von Tucher ein bißchen ironisch.

      »Hexerei? Nein. Aber wie sagt Hamlet: Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde–«

      »Also sind Sie schon an den Grenzen der Schulweisheit angelangt?« unterbrach Herr von Tucher noch immer mit Ironie. »Ich für meinen Teil schlage mich zu den Skeptikern. Wir werden ja sehen.«

      »Wir werden sehen«, wiederholte Daumer fröhlich.

      Nach oftmaligem kurzen Rasten ward am Rand einer Wiese haltgemacht, und alle ließen sich im Gras nieder. Caspar schlief sogleich ein; Anna breitete ein Tuch über sein Gesicht und packte sodann einige mitgebrachte Eßwaren aus einem Körbchen. Schweigend begannen alle vier zu essen. Ein natürliches Schweigen war es nicht: der lieblich vergehende Tag, das sommerliche Blühen forderten eher zu heiteren Gesprächen auf, aber um den Schläfer lag ein eigner Bann, jeder spürte die Gegenwart des Jünglings jetzt stärker als vorher, und es hatte bei einigen gleichgültigen Redensarten sein Bewenden, die leiser klangen als selbst die Atemzüge des Schlummernden. Weit und breit war kein Mensch zu sehen, da man absichtlich einen selten begangenen Weg gewählt hatte.

      Die Sonne war am Sinken, als Caspar erwachte und, sich aufrichtend, die Freunde der Reihe nach dankbar und etwas beschämt anblickte. »Sieh nur hinüber, Caspar, sieh den roten Feuerball«, sagte Daumer; »hast du die Sonne schon einmal so groß gesehen?«

      Caspar schaute hin. Es war ein schöner Anblick: die purpurne Scheibe rollte herab, als zerschnitte sie die Erde am Rand des Himmels; ein Meer von Scharlachglut strömte ihr nach, die Lüfte waren entzündet, blutiges Geäder bezeichnete einen Wald, und rosige Schatten bauschten langsam über die Ebene. Nur noch wenige Minuten, und schon zuckte die Dämmerung durch den sanften Karmin des Nebels, in den die Ferne getaucht war, einen Augenblick lang bebte das Gelände, und grünkristallene Strahlenbündel schossen über den Westen, der versunkenen Sonne nach.

      Ein geisterhaftes Lächeln glitt über die Züge der beiden Männer und der zwei Frauen, als sie Caspar mit einer Gebärde stummer Angst hinübergreifen sahen gegen den Horizont. Daumer näherte sich ihm und ergriff seine Hand, die eiskalt geworden war. Caspars Gesicht wandte sich erzitternd ihm zu, voller Fragen, voller Furcht, und endlich bewegten sich die Lippen, und er murmelte schüchtern: »Wo geht sie hin, die Sonne? Geht sie ganz fort?«

      Daumer vermochte nicht gleich zu antworten. So mag Adam vor seiner ersten Nacht im Paradies gezittert haben, dachte er, und es geschah nicht ohne Schauder, nicht ohne seltsame Ungewißheit, daß er den Jüngling tröstete, ihn der Wiederkunft der Sonne versicherte.

      »Ist dort Gott?« fragte Caspar hauchend, »ist die Sonne Gott?«

      Daumer deutete mit dem Arm weit ringsum und erwiderte: »Alles ist Gott.«

      Indessen mochte ein solches Diktum pantheistischer Philosophie für die Auffassungsgabe des Jünglings ein wenig zu verwickelt sein. Er schüttelte ungläubig den Kopf, dann sagte er mit dem Ausdruck dumpf-abgöttischer Verehrung: »Caspar liebt die Sonne.«

      Auf dem Heimweg war er ganz stumm; auch, die übrigen, selbst die immer wohlgelaunte Anna, waren in einer wunderlich gedrückten Stimmung, als wären sie nie zuvor durch einen spätsommerlichen Abend gewandert, oder als fühlten sie den Auftritt voraus, der ihnen das Beisammensein dieser Stunden unvergeßlich machen sollte.

      Kurz vor dem Stadttor nämlich blieb Anna stehen und deutete mit einem Zuruf an alle in das herrlich gestirnte Firmament. Auch Caspar blickte hinauf, er erstaunte

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