Caspar Hauser. Jakob Wassermann
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Unergründliche Sorge. Man mußte lernen, vielleicht wurde es dann klar. Lernen, wie alles bestand, lernen, was in der Nacht verborgen war, wenn man nicht lebte und dennoch spürte, das Unbekannte lernen, erhaschen, was so fern, wissen, was so dunkel war, die Menschen fragen lernen. Sein Eifer bei den Büchern wurde glühend. Er begann Ungeduld zu zeigen, wenn er von den fremden Besuchern sich immer wieder empfindlich gestört fand, denn jetzt kamen die Leute schon von auswärts, weil allenthalben im Land über Caspar Hauser geredet und geschrieben wurde. Auch Daumer konnte sich der Ansprüche, die an ihn gestellt wurden, kaum erwehren. Er war oft mißgelaunt und matt, und es gab Stunden, wo er bereute, Caspar der Welt preisgegeben zu haben.
Es gab Stunden, wo er, allein mit dem Jüngling, sich seiner besseren Würde erinnerte und diesem seltsam Leibeigenen, Seeleneigenen sich tiefer anschloß, als der anfängliche Zweck gewollt. Es gab eine Stunde, wo Daumer eines paradiesischen Bildes gewahr wurde: Caspar im Garten, auf der Bank sitzend, ein Buch in der Hand; Schwalben ziehen ihre Zickzackkreise um ihn, Tauben picken vor seinen Füßen, ein Schmetterling ruht auf seiner Schulter, die Hauskatze schnurrt an seinem Arm. In ihm ist die Menschheit frei von Sünde, sagte sich Daumer bei diesem Anblick, und was wäre sonst zu leisten, als einen solchen Zustand zu erhalten? Was wäre hier noch zu enträtseln, was zu verkünden?
Eines andern Tages erhob sich im Nachbargarten großer Lärm. Ein bissiger Hund hatte seine Kette zerrissen und raste, Schaum vor dem Maul, in wilden Sprüngen umher, überrannte ein Kind, schlug einem Knecht, der ihn verfolgte, die Zähne ins Fleisch und stürzte gegen den Zaun des Daumerschen Gartens. Eine Latte krachte unter dem Anprall, das Tier schlüpfte herüber und richtete die blutunterlaufenen Augen wild auf die kleine Gesellschaft, die unter der Linde saß: Daumer selbst, dessen Mutter, der Bürgermeister Binder und Caspar. Alle standen ängstlich auf, Binder erhob den Stock, das Tier machte einige Sätze, blieb aber auf einmal stehen, schnupperte, trabte auf Caspar zu, der bleich und stille saß, wedelte mit dem Schweif und leckte die herabhängende Hand des Jünglings. Mit einem lodernden ungewissen Blick sah es ihn an, voll Ergebenheit fast, eine Zärtlichkeit erwartend, und es war, als erbitte es Verzeihung. Denselben ungewissen und ergebenen Ausdruck hatte auch Caspar im Auge; ihn jammerte der Hund, er wußte nicht warum.
Man erzählte sich, daß Daumer nach diesem Auftritt geweint habe.
Zwei Tage später, an einem regnerischen Oktoberabend war es, daß sich Daumer mit seiner Mutter und Caspar im Wohnzimmer befand. Anna war zu einer Unterhaltung in die Reunion gegangen, die alte Dame saß strickend im Lehnstuhl am offenen Fenster, denn trotz der vorgerückten Jahreszeit war die Luft warm und voll des feuchten Geruchs verwelkender Pflanzen. Da wurde an die Türe geklopft, und der Glasermeister brachte einen großen Wandspiegel, den die Magd in der vergangenen Woche zerbrochen hatte. Frau Daumer hieß ihn den Spiegel gegen die Mauer lehnen, das tat der Mann und entfernte sich wieder.
Kaum war er draußen, so fragte Daumer verwundert, warum sie den Spiegel nicht gleich an seinen Platz habe hängen lassen, man hätte dann doch die Arbeit für morgen erspart. Die alte Dame erwiderte mit verlegenem Lächeln, am Abend dürfe man keinen Spiegel aufhängen, das bedeute Unheil. Daumer besaß nicht genug Humor für derlei halbernste Grillen; er machte der Mutter Vorwürfe wegen ihres Aberglaubens, sie widersprach, und da geriet er in Zorn, das heißt er sprach mit seiner sanftesten Stimme zwischen die geschlossenen Zähne hindurch.
Caspar, der es nicht sehen konnte, wenn Daumers Gesicht unfreundlich wurde, legte den Arm um dessen Schulter und suchte ihn mit kindlicher Schmeichelei zu begütigen. Daumer schlug die Augen nieder, schwieg eine Weile und sagte dann, völlig beschämt: »Geh hin zur Mutter, Caspar, und sag ihr, daß ich im Unrecht bin.«
Caspar nickte; ohne recht zu überlegen, trat er vor die Frau hin und sagte: »Ich bin im Unrecht.«
Da lachte Daumer. »Nicht du, Caspar! Ich!« rief er und deutete auf seine Brust. »Wenn Caspar im Unrecht ist, darf er sagen: ich. Ich sage zu dir: du, aber du sagst doch zu dir: ich. Verstanden?«
Caspars Augen wurden groß und nachdenklich. Das Wörtchen Ich durchrann ihn plötzlich wie ein fremdartig schmeckender Trank. Es nahten sich ihm viele Hunderte von Gestalten, es nahte sich eine ganze Stadt voll Menschen, Männer, Frauen und Kinder, es nahten sich die Tiere auf dem Boden, die Vögel in der Luft, die Blumen, die Wolken, die Steine, ja die Sonne selbst, und alle miteinander sagten zu ihm: Du. Er aber antwortete mit zaghafter Stimme: Ich.
Er faßte sich mit flachen Händen an die Brust und ließ die Hände heruntergleiten bis über die Hüften: sein Leib, eine Wand zwischen innen und außen, eine Mauer zwischen ich und du!
In demselben Augenblick tauchte aus dem Spiegel, dem gegenüber er stand, sein eignes Bild empor. Ei, dachte er ein wenig bestürzt, wer ist das?
Natürlich war er schon oft an Spiegeln vorbeigegangen, aber sein von den vielen Dingen der vielgesichtigen Welt geblendeter Blick war mit vorbeigegangen, ohne zu weilen, ohne zu denken, und er hatte sich daran gewöhnt wie an den Schatten auf der Erde. Ein Ungefähr, das ihn nicht hemmte, konnte nicht zum Erlebnis werden.
Jetzt war sein Auge reif für diese Vision. Er sah hin. »Caspar«, lispelte er. Das Drinnen antwortete: Ich. Da waren Caspars Mund und Wangen und die braunen Haare, die über Stirn und Ohren gekräuselt waren. Nähertretend, schaute er in spielerisch-zweifelnder Neugier hinter den Spiegel gegen die Mauer; dort war nichts. Dann stellte er sich wieder davor, und nun schien ihm, als ob hinter seinem Bild im Spiegel sich das Licht zerteile und als ob ein langer, langer Pfad nach rückwärts lief, und dort, in der weiten Ferne stand noch ein Caspar, noch ein Ich, das hatte zugeschlossene Augen und sah aus, als wisse es etwas, was der Caspar hier im Zimmer nicht wußte.
Daumer, gewohnt, das Betragen des Jünglings zu beobachten, lauerte gespannt herüber. Da, ein seltsames Geräusch; es surrte etwas in der Luft und fiel neben dem Tisch zu Boden. Es war ein Stück Papier, das von draußen hereingeflogen war. Frau Daumer hob es auf; es war wie ein Brief zusammengefaltet. Unschlüssig drehte sie es zwischen den Fingern und reichte es dem Sohn.
Der riß es auf und las folgende, mit großer Schrift geschriebene Worte: »Es wird gewarnt das Haus und wird gewarnt der Herr und wird gewarnt der Fremde.«
Frau Daumer hatte sich erhoben und las mit; ein Frösteln lief über ihre Schultern. Daumer jedoch, indes er schweigend auf den Zettel starrte, hatte das Gefühl, als sei vor seinen Füßen ein Schwert, die Spitze nach oben, aus der Erde gewachsen.
Caspar hatte von dem Vorgang nicht das mindeste wahrgenommen. Er verließ den Platz vor dem Spiegel und ging wie geistesabwesend an den beiden vorüber zum Fenster. Dort stand er besinnend, beugte sich