Die Revolution der Städte. Henri Lefebvre

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Die Revolution der Städte - Henri Lefebvre eva taschenbuch

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die allgemeine Organisation des Verkehrswesens und der institutionelle Urbanismus. Die mittlere, städtische Ebene mit ihren Versorgungsstrukturen, Dienstleistungen und lokalen Machtsystemen fungiert wiederum als Mediator zwischen der »fernen Ordnung« und dem Alltagsleben. Hier werden das »Allgemeine« und das »Private« miteinander artikuliert. In dieser Eigenschaft kommt der gemischten Ebene eine bestimmte soziale Funktion zu; sie führt die Elemente der Gesellschaft zusammen und macht sie so erst wirksam und fruchtbar (Lefebvre 1972a, S. 86–88).

      Mit dem Prozess der umfassenden Urbanisierung entsteht für Lefebvre die Tendenz, dass die verschiedenen Ebenen miteinander verschmelzen und das »Allgemeine« das »Private« zu absorbieren versucht. Gegen diese Vereinnahmung lasse sich zwar die gemischte, städtische Ebene als Terrain für soziale Kämpfe mobilisieren, aber eigentlich sei die »private Ebene« des Wohnens entscheidend (ebd., S. 98). Lefebvre knüpft hier an Überlegungen aus seiner Alltagskritik an. Bereits dort verlässt er das Basis-Überbau-Schema des traditionellen Marxismus, der in letzter Instanz stets auf das »Ökonomische« verweist. Für ihn impliziert der Begriff der Produktion auch, »im weitesten Sinne, die Reproduktion« (Lefebvre 1972b [1968], S. 49). Der (urbanisierte) Alltag ist nicht mehr das Abgeschobene und Verdrängte, sondern Produkt einer technokratischen Regulierung und ökonomischen Bewirtschaftung.

      Auf der Raum-Zeit-Achse der Urbanisierung macht Lefebvre zwei »kritische Phasen« aus: In der ersten gerät die einst dominierende Landwirtschaft in eine untergeordnete Position gegenüber der Stadt, die ihrerseits bald von den Verwüstungen der Industrialisierung heimgesucht wird. In der zweiten kritischen Phase wird die Industrie der »städtischen Wirklichkeit« untergeordnet und das bislang als nebensächlich geltende »Wohnen« erlangt zentrale Bedeutung. »Unter dem hier vorgeschlagenen Blickwinkel gibt es also ein Primat der Verstädterung, und dem Wohnraum wird Priorität zuerkannt.« (Lefebvre 1972a, S. 98)

      Daraus ergeben sich grundlegende strategische Konsequenzen, was die Frage des »revolutionären Subjekts« anbetrifft. Nach Lefebvre befindet sich das Industrieproletariat mit der zunehmenden Urbanisierung der Gesellschaft in einem Auflösungsprozess, der seine historische Rolle als Träger der Veränderung unterminiert. Und zwar in einem doppelten Sinne: Einerseits verallgemeinert sich der Proletarierstatus, den nun auch die meisten Bewohner der Neuen Stadt innehaben (Lefebvre 1972b, S. 87). Andererseits besitzt die traditionelle Arbeiterklasse kein politisches Gewicht mehr, denn »auf dem Gebiet des Urbanismus hat sie nichts Bedeutendes vorzuweisen.« (Lefebvre 1972a, S. 195) Die Repräsentanten dieser Klasse (Gewerkschaften, Parteien) und die Mehrheit der Arbeiterschaft haben sich gänzlich auf die Logik des Ökonomischen, des Quantitativen eingelassen.

      Lefebvre begibt sich damit auf vermintes Gelände. So will er die Marxsche Geschichtsphilosophie, die wesentlich auf der Idee des emanzipatorischen Proletariats beruht, fortschreiben und gleichzeitig mit ihr brechen. Doch der Philosoph gibt sich bescheiden: Er beabsichtige lediglich, »das marxistische Projekt einer Revolution innerhalb der industriellen Organisation durch das Projekt zur Revolution der Stadt [zu] ergänzen.« (Ebd., S. 110). Schon in Le droit à la ville (1968) hatte Lefebvre behauptet, dass Marx die Dialektik von Industrialisierung und Urbanisierung aus historischen Gründen nicht wirklich begreifen konnte. Das Problem des Wohnens sei zwar von den »Klassikern« erkannt worden, aber das Phänomen der Urbanisierung gehe über die »Wohnungsfrage« weit hinaus (Lefebvre 2009b [1968], S. 78). Lefebvre deutet damit eine historische Beschränkung des Marxschen Denkens an: Er ordnet Marx in die Epoche der Industrialisierung ein, hält aber gleichzeitig an dessen Methode fest – nach der marxistischen Erkenntnistheorie, die auf der dialektischen Einheit von Gegenstand und Methode beruht, eine nicht akzeptable Verfahrensweise (Treusch-Dieter 1976, S. 115).

      Für Lefebvre ist der »Wohnraum« ein Bereich, auf den kein Individuum verzichten kann, der sich aber mit fortschreitender kapitalistischer Raumverwertung für die Nutzerinnen und Nutzer zunehmend als defizitär erweist. Angesichts dieser Konstellation erhofft er sich die Entstehung eines neuen widerständigen Subjekts, das nicht nur gegen die Ausbeutung seiner Arbeitskraft, sondern gegen die Ruinierung seines gesamten Lebenszusammenhangs revoltiert. Im Rückblick erweist sich der erweiterte Alltagsbegriff von Lefebvre als visionär: Mit der gegenwärtigen kapitalistischen Vergesellschaftung sind die herkömmlichen Trennungen von Arbeit und Nicht-Arbeit, von Produktion und Reproduktion endgültig obsolet geworden. Indem das Kapital heute nicht nur die Arbeitskraft, sondern das Potenzial des gesamten schöpferischen Vermögens der Individuen ausbeutet, versucht es ihren Lebenszusammenhang umfassend zu regulieren (vgl. Virno 2005). Gegen diese »postfordistischen « Kontrolltechnologien und -prozeduren artikuliert sich in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen Widerstand: gegen Ausbeutung und Unterdrückung ebenso wie gegen Ausgrenzung und vordefinierte Subjektpositionen (Foucault 1987, S. 247).

      Urbane Form und Zentralität

      Obwohl die Stadt mit der umfassenden Urbanisierung keine eigene Produktions- und Lebensweise mehr darstellt, verliert sie nach Lefebvre nicht ihre spezifische Funktion der Zentralität. Bereits in Le droit à la ville erläutert er diese These anhand der historischen Entwicklung: In der antiken Stadt ist das Zentrale mit einem leeren Raum verbunden, der entweder den Stadtbürgern als Versammlungsort dient (die griechische Agora) oder als Mittelpunkt des politischen, ökonomischen, kulturellen und religiösen Lebens fungiert (das römische Forum). Die mittelalterliche Stadt versammelt Händler und Waren auf dem Marktplatz, einem wirtschaftlichen Zentrum, das sich durch seine Nähe zur Kirche und die Exklusion all derjenigen auszeichnet, die seine grundlegenden Funktionen stören könnten. Die kapitalistische Stadt wiederum produziert einen zentralen Kommerzraum (City); die Stadtkerne regenerieren sich als Orte des Konsums und als konsumierbare Orte. Schließlich entwickeln sich im »Neokapitalismus« die Metropolen zu Entscheidungszentren der multinationalen Konzerne und der Finanzökonomie. Die Verdichtung von ökonomischem Reichtum, Macht und Wissen nimmt in solchen »Weltstädten« eine neue Qualität an (Lefebvre 2009b [1968], S. 119 ff.). Die Eliten besetzen und bewohnen (zum Teil) diesen privilegierten Raum, ohne dass er ihnen notwendigerweise vollständig gehört. Um sie herum existieren soziale Gruppen, die subalterne Dienstleistungen für die gehobenen Klassen erbringen (ebd., S. 110 f.). Assoziationen zur späteren Global City-Theorie drängen sich hier auf (Schmid 2005, S. 187).

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