Oval. Elvia Wilk

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Oval - Elvia Wilk

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vorgeben, eine große Vision für die Welt zu haben. Das konnte sie alles an ihn auslagern. Sie konnte ihre Zeit unter dem grellen Licht des Labors im Keller verbringen, tief unter der Erde, in Gesellschaft von gerinnendem und sich abspaltendem Zellmaterial, und sichergehen, dass er an ihrer statt eine hervorragende Performance lieferte, oben, an Land. Und wenn dieses Arrangement nun zufälliger Weise im Einklang mit traditionellen Geschlechterrollen stand, so war ihr das egal. Mitunter entsprach das Stereotyp der Wahrheit. (Aber ist er Feminist?, hatte Laura einmal gefragt, mit hochgezogener Braue. Anja hatte gelacht. Was bedeutete das überhaupt?)

      Sie betete ihn nicht an, und sie hielt ihn auch nicht für perfekt – ihm mangelte es an wesentlichen Fähigkeiten, das konnte jeder sehen. Wie zum Beispiel Zeitmanagement. Oder auch die Fähigkeit, nach seinen eigenen Urteilen zu handeln, etwa indem er Leuten offen widersprach, mit denen er nicht übereinstimmte. Aber niemand war vollkommen. Wo er unterentwickelt war, war sie überentwickelt, und anders herum, ergo passten sie zusammen.

      Die kleinen Momente ihres gemeinsamen Lebens – das Rauschen des Badezimmerradios, die Art, wie Louis sich schüttelte, nachdem er geduscht hatte, das Kondenswasser auf der Innenseite der Schlafzimmerfenster am Morgen, verursacht durch die Hitze ihrer schlafenden Körper, Anja, die einen orangefarbenen Aufkleber von einer unreifen Birne knibbelte, die präzise Art von Chaos, das Louis hinterließ (in dem alles seinen Platz hatte, auch wenn es so wirkte, als flögen die Dinge nur so durch die Gegend), das Glas Wasser, das sie immer neben das Bett stellte, die grünen Sitzkissen auf der Veranda, auf die das Sonnenlicht in Streifen fiel, Louis, der die Kletterpflanze goss, die an der Rückseite des Hauses hinaufrankte. Louis, der sich ein Video mit einer Anleitung ansah, wie man ein Spannbetttuch faltete – diese Momente waren heilig und bedeuteten mehr als nur die Summe ihrer Teile. Als eine Untermauerung der grandiosen Möglichkeiten ihrer Leben – seines Lebens – in der Öffentlichkeit, was konnte heiliger sein als die Alltäglichkeit ihrer Liebe?

       4

      Morgens wachte sie meist mit Nackenschmerzen auf. Die symmetrische Verspannung war stets präsent, verkrampfte auf beiden Seiten der Wirbelsäule die Muskulatur am Übergang vom Hals zur Schulter. Sie konnte spüren, wie das Stützgewebe gegen die Knochen aufbegehrte. Dieser morgendliche Schmerz war schon immer dagewesen, schon vor Louis, vor Howard, lange bevor sie mit irgendwem das Bett geteilt hatte. Sie hatte sich nicht richtig entwickelt, etwas fehlte in der Versorgungskette ihrer Wirbelsäule, die den Schädel stützte. Ihrer Konstruktion mangelte es an Sorgfalt. Das war eine Tatsache.

      Für gewöhnlich machte sie nach dem Aufwachen, während Louis noch schlief, einige Dehnübungen auf der Yogamatte, die stets ausgerollt am Fußende des Bettes lag.

      Als sie an diesem Morgen wach wurde, erblickte sie ihn jedoch schon selbst auf der Matte, wo er irgendwelche abgewandelten yogaähnlichen Bewegungen ausführte. Sie ließ ihren Kopf über die Bettkante hängen, drehte ihn so, dass sie zusehen konnte, wie er sich nach vorne lehnte und versuchte, seine Ellbogen in das Dreieck seiner Leistengegend zu manövrieren.

      »Als ich klein war, hat meine Schwester immer gesagt, wenn ich meinen eigenen Ellbogen lecken könnte, würde ich mich in einen Jungen verwandeln«, sagte sie. Er zuckte zusammen und blickte auf, aus irgendeinem Grund überrascht, sie zu sehen.

      »Und, hast du es geschafft?«

      »Nö.«

      »Vielleicht sind all diese Versuche von damals schuld an deinen ewigen Nackenschmerzen.«

      Manchmal massierte er ihr den Nacken, was eher emotional als körperlich half. Sie überlegte, ihn darum zu bitten, da sie sich heute besonders gerädert fühlte, aber er war auf der Matte damit beschäftigt, seine Unterarme tiefer in seinen Schritt zu zwingen.

      Im Badezimmer stellte sie das Radio über der Toilette an, bevor sie den Duschkopf aufdrehte, um der Schwerkraft, dem morgendlichen Feind, zu erlauben, die Blase des gesammelten Regenwassers langsam in einem schauerartigen Nieseln zu entleeren. Aus dem Radio erklang eine heitere Stimme. Beruhigende Wetterworte. Tagsüber meist sonnig, windstill, Sonnenschauer am Nachmittag. Völlig unglaubwürdig und fern jeder Realität. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, wann sich die Diskrepanz von akzeptablem Fehler zu eklatantem Widerspruch ausgeweitet hatte. Dam war der Meinung, die Ungenauigkeit aller offiziellen Wettervorhersagen war kein Zufall, sondern eine handfeste Verschwörung riesigen Ausmaßes. Er konnte sich nur nicht entscheiden, wessen Verschwörung. Mitunter waren es die Nachrichtensender, manchmal die Internetprovider, dann wieder die Stadtverwaltung. Anja tat sich schwer damit, genügend Paranoia aufzubringen, um sich hinter eine seiner wechselnden Hypothesen zu stellen, aber es fiel ihr auch nicht leicht, eine andere, weniger unheimliche Erklärung zu finden. Dam war nicht der einzige, der darüber spekulierte; es gab viele andere, die bis tief in die Nacht auf Reddit Theorien austauschten. Es hatte etwas Bemitleidenswertes, die Bedeutung des Lebens an das geliehene Gerüst einer Verschwörungstheorie zu hängen, aber Dam verlieh der Sache eine gewisse Poesie. Sie erinnerte sich an sein Update vom Abend zuvor: Wohlwollende Wolken, stille Gewässer / Ungeheure Dankbarkeit / 30º

      Sie wechselte den Sender zu NPR. Das war nach den Dehnübungen der zweite Teil ihres Morgenrituals. Louis sagte, die Englisch sprechenden Stimmen erinnerten ihn an morgendliche Autofahrten zur Schule und erfüllten ihn mit Nostalgie für ein gewisses neoliberales amerikanisches Lebensgefühl, das im Verschwinden begriffen war. Der Klang von NPR war wie eine Flaschenpost aus der Heimat, verfasst von jemandem, der nur auf den Inhalt der Botschaft hätte achten müssen, um zu wissen, dass das Medium ihrer Übermittlung schon längst seine Berechtigung verloren hatte. Und dennoch plauderten die Stimmen weiter in zweiminütigen Nachrichtenbeiträgen, selbst hier in Europa, und versicherten ganzen Generationen von Expats, dass die Vormachtstellung der englischen Sprache andauern würde und dass im Namen der Sendung All Things Considered alle Ansichten zumindest in Betracht gezogen werden würden, ganz gleich ob diese Ansichten nun wahr waren oder nicht. Nostalgie an sich ist nicht unmoralisch, hatte Louis zur Verteidigung seines Senders gesagt.

      Das Wasser war lauwarm und roch irgendwie seltsam. Anja duschte nur kurz und widmete sich Teil drei der morgendlichen Routine: Mit dem Finger malte sie einen Smiley auf den beschlagenen Spiegel. Sie zeichnete ein Gesicht mit einem Fragezeichen anstatt eines Mundes :-? Wenn Louis duschte und sich das Glas mit neuem Dunst überzog, würde das Gesicht wieder auftauchen und dann würde er wissen, wie sie sich fühlte, selbst wenn sie das Haus bereits verlassen haben sollte. Sie trocknete sich gründlich ab und ließ das Radio für Louis laufen, wobei ihr auffiel, dass der schlechte Empfang im Badezimmer die amerikanischen Stimmen noch ferner klingen ließ.

      Donnerstag. Er war erst seit vier Tagen wieder zuhause, und gemeinsam hatten sie schon zu ihrem üblichen Morgenablauf zurückgefunden. Howard und Laura hatten ihr zwar versichert – und Laura mehr als nur einmal–, dass Normalität im Strudel einer Tragödie die beste Strategie sei, doch Anja quälte sich noch immer mit der Sorge, Louis’ Gefühle zu unterdrücken, indem sie nicht darüber sprach. Nicht, dass er das behauptet hätte – aber zweifellos hatte er sich verändert, ob er es zugeben wollte oder nicht. Sein Körper war ein anderer Körper: ein Körper ohne Eltern. Das musste physische Spuren an ihm hinterlassen haben, irgendwo musste ein Stück von ihm fehlen, aber sie konnte nicht ausmachen, wo.

      Versehrt oder nicht, der Louis, den sie kannte, wusste sich in jeder Situation angemessen zu verhalten, und so wie er verhielt sich nun mal kein trauernder Mann, der sich seiner Gefühle bewusst war und in der Lage sein sollte, über diese Gefühle auch zu sprechen. Besser als jeder andere, den sie kannte, begriff Louis jene Verhaltensmuster, die die allgemeine gesellschaftliche Realität bequem am Laufen hielten – er kannte die Regeln so gut, dass er nach Belieben mit ihnen spielen konnte, versehentlich aber brach er sie nie. Er wusste, was er tat. Er musste wissen, dass nach dem Tod eines Elternteils das einzig richtig Verhalten darin bestand, traurig zu sein. Er musste wissen, dass vorzugeben,

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