Unterwegs geboren. Christa Enchelmaier

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Unterwegs geboren - Christa Enchelmaier

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       UNTERWEGS GEBOREN ...

      Anna stand in der vorderen guten Stube am Tisch. Vor sich hatte sie Stoff für ein neues Kleid ausgebreitet. Den hatte sie vor Kurzem im Konsum, dem einzigen Gemischtwarenladen in Gnadental, gekauft. Die Ware war neu eingetroffen und gefiel ihr ausnehmend gut, und so hatte sie gleich zugegriffen. Auch Stoff für Mullwindeln kaufte sie ein. Sie war eine junge Frau von 22 Jahren und erwartete mich, ihr erstes Kind.

      Die gute Stube in dem Bauernhof bewohnte sie erst seit knapp einem Jahr. Damals hatten Robert und sie den Bauernhof von einem kinderlosen alten Ehepaar übernommen. Dafür hatten sie sich verpflichtet, für dieses Ehepaar zu sorgen. Es war ein kleiner Bauernhof. Für beide Familien reichte der Wohnraum nicht aus. Deshalb war es notwendig, eine zusätzliche separate Wohnung einzurichten. Das erreichten sie durch den Umbau des im hinteren Teil des Hauses befindlichen Kuhstalles, wo nach geraumer Zeit ein schönes Wohnzimmer und ein Schlafzimmer entstanden. Die neue Wohnung, in dem nun Emma und Gotthilf wohnten, wurde ›Altenteil‹ genannt. Meine Eltern Anna und Robert bewohnten den vorderen Teil des Hauses. Die vorhandene Küche wurde gemeinsam genutzt. Auch neue Ställe für die Kühe, die Schafe und vor allem für die Pferde wurden gebaut.

      Im Hof liefen viele Hühner. Emma vom Altenteil hatte die Aufgabe übernommen, sie zu versorgen und die Eier einzusammeln. Gotthilf machte sich auch auf dem Hof nützlich und verrichtete verschiedene Arbeiten, die er noch machen konnte.

      Als Robert 1939 den Hof übernommen hatte, waren die politischen Gewitterwolken noch weit weg. Im Radio und in der Zeitung wurde von einem Deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt, dem ›Hitler-Stalin-Pakt‹, berichtet, denn Russland war um Sicherheit in der Außenpolitik bemüht. Josef Stalin sowie der deutsche Außenminister Joachim von Ribbentrob und Molotow, der russische Kommissar für Äußeres, unterzeichneten in Moskau diesen Vertrag. Als dann wenig später der Zweite Weltkrieg mit dem Einmarsch in Polen am 1. September 1939 ausbrach, fühlte sich Robert in Rumänien noch sicher und geborgen und war wenig beunruhigt. Dem Hitler-Stalin-Pakt folgte ein ›Grenz- und Freundschaftsvertrag‹ mit geheimen Zusatzprotokollen.

      Robert war derweil vom frühen Morgen bis zum späten Abend auf seinem Hof und den Feldern beschäftigt. Den neuen Pferdestall hinterm Haus hatte er gerade fertig gestellt. Das Geld dafür hatte er den Winter über in einer Schlosserei im Ort verdient. Auf seine Pferde war er sehr stolz und es war ihm wichtig, dass sie gut untergebracht waren. Nun freute er sich über den guten Stand der Felder und erwartete eine gute Ernte mit überdurchschnittlichen Erträgen. Wie jedes Jahr halfen ihm einige Tagelöhner bei der Arbeit, alleine hätte er es nicht geschafft. Er war Bauer mit Leib und Seele und konnte sich ein Leben ohne seine geliebten Pferde und den Bauernhof nicht vorstellen.

      Am 24. Juni 1940 war es plötzlich aus mit der Ruhe. An diesem Tag forderten die Sowjets ultimativ Bessarabien von Rumänien zurück, das sie am Ende des Ersten Weltkrieges wegen militärischer Schwäche hatten abtreten müssen. Dass das strategisch wichtige Bessarabien den Rumänen zugesprochen wurde, wurde als territoriale Ungerechtigkeit angesehen.

      Dieser Landstrich war immer ein Kontrollposten an der Donaumündung und Brückenkopf für sowjetische Präsenz in Südosteuropa. Außerdem gehörte Bessarabien zum fruchtbaren Schwarzerdegürtel der Ukraine und war für den Hafen in Odessa sehr wichtig.

      Auch der deutsche Rundfunk berichtete und die Nachricht schlug ein wie ein Blitz aus heiterem Himmel: Die russische Regierung forderte Rumänien auf, innerhalb von 3 Tagen das Land bedingungslos zu räumen. Rumänien war sich dieser heiklen Situation immer bewusst gewesen, gab nun nach und entschloss sich zur freiwilligen Räumung.

      Für die rumänischen Beamten und das Militär bedeutete dies, so schnell wie möglich in ihre angestammte Heimat zu flüchten.

      Es wurde in aller Eile gepackt und alles, was nicht niet- und nagelfest war, zum Bahnhof gebracht und in Güterwagen verladen. Andere zogen es vor, mit beschlagnahmten vollgepackten Pferdewagen und allerlei zu Recht oder Unrecht erworbenen Gütern das Weite zu suchen. Rumänische Polizei- und Militärfunktionäre zogen ungeniert fremde Fuhrwerke ein und beluden sie mit Ausrüstungsgegenständen und Lebensmitteln. Viele deutsche Bauern versteckten daher ihre Pferde und Wagen in den meterhohen Maisfeldern, um sie nicht abgeben zu müssen.

      Den Russen missfiel natürlich die Art und Weise, wie die Rumänen sich ungeniert in Bessarabien bedienten. Am 28. Juni 1940 marschierte daher die Rote Armee in Bessarabien ein. Russische Fallschirmjäger stürzten die letzten abziehenden Rumänen in ein heilloses Chaos. Hunderte von beschlagnahmten Fuhren kamen wieder zurück und die Leute, die auf den Wagen saßen, mussten zu Fuß in ihre Heimat flüchten.

      Die Bevölkerung Bessarabiens war geschockt, denn sie erfuhr vom Ultimatum erst am Vorabend des russischen Einmarsches aus dem Radio. Die Besetzung erfolgte dann blitzschnell. Die Einwohner waren vor Schreck wie gelähmt und konnten kaum erfassen, was alles auf sie zukam. Unsicherheit über die weitere Zukunft machte sich breit. Die Erinnerung an die geplante Deportation aller Bessarabien-Deutschen nach Sibirien im Winter 1917 kam wieder hoch. Damals hatten sie Glück gehabt, denn starker Frost und unermesslich viel Schnee verhinderten den Abtransport von 80.000 Deutschen. Dass nach dem Versailler Vertrag und dem Ende des 1. Weltkrieges das Land dem rumänischen Staat zugeteilt wurde, war für sie ein großes Glück.

      Damals sprach sich schnell herum, zu welch ungeheuerlichen Gräueltaten die Sowjets auf der anderen Seite des Grenzflusses Dnjester fähig waren. Katastrophale Agrarpolitik, Kulakenverfolgung, Hungersnöte, Massen-sterben ungeahnten Ausmaßes, politische Repressionen und Deportationen waren an der Tagesordnung.

      Kulaken waren selbstständige Bauern, die Hof, Felder und Tiere besaßen. ›Kulak‹ ist in Russland ein Schimpfwort und meint einen Ausbeuter, der vernichtet werden muss. Somit galten die meisten Bessarabien-Deutschen Kolonisten als Kulaken und hätten im russischen System keine Chance gehabt. Und jetzt stand die Rote Armee vor ihrer Tür!

      Sofort änderte sich alles: Die jeweiligen Dorfschulzen wurden abgesetzt und der Dorfsowjet hatte nun das Sagen. Männer der Roten Miliz standen in Zivilkleidung und bewaffnet am Dorfeingang und am Ende der langen Dorfstraße. Innerhalb kürzester Zeit waren die Lebensmittelläden leer und neue Ware kam nicht nach. Wer nicht rechtzeitig vorgesorgt hatte, hatte nun das Nachsehen.

      Schon alleine diese Tatsache ließ erahnen, wie es unter russischer Verwaltung weitergehen würde. Und am 29. Juni erschien dann auch ein Erlass Stalins, dass alles unbewegliche Vermögen in Bessarabien verstaatlicht werden soll.

      Mit der Zeit wurde bekannt, dass Hitler und Stalin über eine Aussiedlung der Auslandsdeutschen aus Bessarabien und der Nordbukowina verhandelten. Nun war klar, dass es den Bessarabien-Deutschen genauso ergehen würde, wie 1939 den Wolhynien-Deutschen, über die so viel berichtet wurde. Vorerst ließ man aber die deutschen Kolonisten für sich arbeiten. Sie sollten eine gute Ernte einbringen, bevor man sie gehen ließ.

      Festgenommen oder verschleppt wurden deutsche Kolonisten nicht, während viele der reichen Russen, Bulgaren und Juden abgeholt wurden und zumeist nicht wieder zurückkamen.

      Der Gedanke an eine Umsiedlung aus ihrer vertrauten Heimat in eine völlig ungewisse Zukunft belastete ungemein. Hier in Gnadental und auch in den anderen Dörfern hatte man sich schließlich durch harte Arbeit eine gesicherte Existenz geschaffen. Nun sollten mehr als 93.000 Deutsche die 152 blühenden, schönen Dörfer und Städte mit weit über einer Million Morgen fruchtbarem Land verlassen. Sie hatten die Steppen zu einer Kornkammer gemacht. Die Deutschen hatten immer ihre eigenen, gut funktionierenden und bewährten Dorf- und Oberämter und ab 1918, als Bessarabien rumänisch wurde, auch ihre eigene Gerichtsbarkeit. Sie hatten eigene Lehrer, Schulen, Kirchen, Ärzte, Krankenhäuser, Altenheime, Molkereien, Büchereien, Mühlen und Museen. Nun mussten sie alles aufgeben,

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