Von Flusshexen und Meerjungfrauen. Jennifer Estep

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Von Flusshexen und Meerjungfrauen - Jennifer  Estep

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ein immer größer werdender Strudel entsteht.

      »Was ist das?«

      Anstelle einer Antwort erhalte ich ein aufforderndes Wiehern. Wie gelähmt halte ich inne. Der dünne Stoff meines Brautkleids bauscht sich in den pulsierenden Wogen des Sees. Ich kann den Blick nicht von dem Strudel in der Mitte abwenden, wo nun ein helles Leuchten aus der Tiefe steigt. Eine unermessliche Verlockung geht davon aus, schlimmer als von dem Kelpie – tausendfach! Ich will dort hinausschwimmen und in dem Leuchten aufgehen, mich ihm hingeben und für immer in ihm auflösen.

      Mit einem Mal fällt es mir wie Schuppen von den Augen: die Herrin des Sees! Sie hat den treulosen Bräutigam verwandelt. Sie hat seine Braut getötet! Wer über den See schwimmt, fällt nicht dem Kelpie zum Opfer, sondern ihr! Mit diesem letzten klaren Gedanken schwinge ich mich auf den Rücken des Pferdes und kralle mich in seiner Mähne fest.

      Ein Zittern geht durch den Körper des Hengstes, dann erhebt er sich, bis er mit allen vier Hufen auf der Wasseroberfläche zum Stehen kommt. Krampfhaft umschließen meine Beine seinen Körper. Und doch kann ich den Blick nicht von dem Strudel reißen. Denn das, was nun daraus emportaucht, ist ein Wesen, strahlender als die Frühlingssonne und anmutiger als der Wimpernschlag einer frisch vermählten Braut. Goldenes Haar umweht ihr feines, gleichmäßig geschnittenes Gesicht. Ihr durchsichtiges Gewand besteht aus grüner Seide, besetzt mit Tausenden Muscheln und Perlen. Als Krone trägt sie eine roséfarbene Wasserrose. Durch ein sachtes Winken gibt die Herrin des Sees mir zu verstehen, dass ich zu ihr kommen soll.

       Ich will ihr gehorchen! Möge sie mich unterwerfen und in die ewige Dunkelheit führen!

      Doch genau in dem Moment, als ich entscheide, vom Rücken des Pferdes zu springen und dem Befehl meiner Gebieterin zu folgen, schnellt der Kelpie davon. Seine Hufe berühren kaum mehr die Wasseroberfläche. Nur die auffliegenden Gischtflocken und der enorme Gegenwind geben mir einen Hinweis darauf, wie schnell er mich davonträgt.

      »Nein, lass mich zu ihr!«, schreie ich und will abspringen. Doch etwas hält mich fest! Es ist die Mähne des Kelpies, die sich wie schwarze Fesseln um meine Taille schlingt. Mit aller Kraft versuche ich, sie loszuwerden, doch es gelingt mir nicht.

      Komm!, höre ich die Stimme der Herrin in meinem Kopf. Komm zu mir, mein Kind!

      Sie winkt mir mit goldschimmernden Händen. Mein Herz zerspringt fast vor Kummer und Schmerz, weil ich nicht bei ihr sein kann! Doch die Bestie, auf deren Rücken ich sitze, kennt keine Gnade. Unbarmherzig trägt sie mich davon und tritt meine Sehnsucht mit stampfenden Hufen. Hätte ich nur meinen Brautschleier, um sie zu unterwerfen, doch so kann ich nichts tun, außer meinen Tränen freien Lauf zu lassen. Das Bild vor meinen Augen verschwimmt. Ich sehe den Berg am anderen Ufer nicht mehr, die aufgewühlten Wassermassen, über die wir schneller als der Wind hinwegfliegen. Selbst das goldene Leuchten hinter uns verblasst und mit dem Strudel verschwindet schließlich auch mein unbändiges Verlangen, der Herrin des Sees untertan zu sein. Ungläubig reibe ich mir die Augen und blicke zurück, während das Pferd unter mir von schnellem Galopp in einen langsamen Trab fällt. Nichts deutet mehr darauf hin, dass noch vor wenigen Augenblicken die begehrenswerteste aller Verführerinnen dort auf der Lauer lag, um ihre Beute anzulocken. Hätte der Kelpie mich nicht abgehalten, so wäre ich ihr direkt in die goldenen Fangarme geschwommen. Langsam lösen sich die Schlingen seiner Mähne um meinen Bauch, während er die letzten Meter bis zum Ufer zurücklegt. Mit einem Satz springt er an Land und ich lasse mich von seinem Rücken gleiten.

      Der Hengst senkt den Kopf, beide Ohren aufmerksam auf mich gerichtet. Ich lege eine Hand auf seine Nüstern. Sie sind kalt wie der See und feurig wie der Mann, der er einmal gewesen ist. Wie gern würde ich ihm all die Fragen stellen, die er nun nicht mehr beantworten kann.

      »Danke«, sage ich daher nur. »Ich werde den Menschen in meinem Dorf erzählen, dass du kein Ungeheuer bist. Sie sollen von deinem Schicksal erfahren, auf dass deine Braut und du niemals vergessen werdet.«

      Er zeigt ein majestätisches Nicken, dann wendet er sich ab und galoppiert über den See davon. Schon nach wenigen Augenblicken ist er in dem Nebel verschwunden, der vom gegenüberliegenden Ufer herüberweht. Lediglich seine Hufschläge bleiben als kräuselnde Wellen auf dem Wasserspiegel zurück.

      Ob ich all das nur geträumt habe? Ein Griff an meinen Hinterkopf bestätigt mir, dass der Brautschleier wirklich verloren ist – entrissen von einem Wesen, das mich direkt in den Untergang getragen hätte, wenn ich es geschafft hätte, es zu zähmen und zu beherrschen. So aber hat es mir ein neues Leben geschenkt. In Gedenken an die Liebe, die in seinem Herzen niemals erloschen ist.

      Ich wringe das Wasser aus meinem Kleid, dann wende ich mich ab und blicke nach vorn. Nach oben, auf den Gipfel des Berges, dorthin, wo meine eigene Geschichte nun weitergeht. Schon morgen gehöre ich meinem Liebsten allein, und er gehört mir. Ich muss mich sputen.

      Denn er wartet auf mich.

      Die Jägerin

      Lisa Rosenbecker

       Lisa Rosenbecker

      Lisa Rosenbecker wurde 1991 in Hanau geboren, lebt aber inzwischen in Stuttgart. Sie bezeichnet sich als passionierte Teetrinkerin und Leseratte. Ich gehe davon aus, sie liebt auch Fabeltiere, denn auf der Drachennacht in Leipzig ist sie in einem Drachenkostüm aufgetaucht!

      Mit dem Schreiben – und Bloggen – hat sie während ihres Biologiestudiums angefangen. Ihren ersten Fantasyroman veröffentlichte sie 2015: Arya & Finn – Im Sonnenlicht. Seither kann sie sich ein Leben ohne Schreiben nicht mehr vorstellen.

      Derzeit arbeitet sie sowohl an einem New-Adult-Projekt als auch an den Plänen für einen dritten Litersum-Roman.

      Ihre nachfolgende Geschichte spielt im gleichen Universum wie ihre Bücher Magie aus Gift und Silber und Magie aus Tod und Kupfer, allerdings viele Jahrhunderte zuvor. Sie kann auch ohne Vorkenntnisse gelesen werden. Lisa hat sich nicht von einem Märchen, sondern von einer Figur aus dem griechischen Sagenkreis inspirieren lassen. Die Geschichte selbst verortete sie allerdings am Strand der niederländischen Stadt Harlingen, an dem sie bereits im Urlaub spazieren gegangen ist.

       www.lisarosenbecker.de

       Die Jägerin

      Sie riefen nach ihr, wenn sie ein Monster fanden.

      Schwarzes Blut glänzte am Strand in der untergehenden Abendsonne, ehe es in Gischt aufging. Die Brandung des Meeres spülte die Erinnerung an die leblosen Körper hinfort, die bis vor Kurzem im flachen Wasser gelegen hatten.

      Sobald der Mond am Himmel stand, würden sich die letzten Überreste in den Weiten des Ozeans verlieren.

      Und weitere Monster anlocken.

      Ceto wischte sich die klebrigen Hände an ihrer ledernen Weste ab. Der metallische Gestank des Blutes drang ihr in die Nase und in jede Faser ihres Körpers. Er trieb sie an, stärkte sie.

      Ihr Schwert lag verwaist zu ihrer Rechten im Sand,

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