Reisen. Helon Habila
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„Die Frau da“, sagte Mark und zeigte auf die Frau mit dem Lockenkopf, „hat die Installation gemacht. Sie ist halb Nigerianerin.“ Mark war, wie sich später herausstellte, Filmstudent oder es zumindest einmal gewesen – bei Mark war nichts eindeutig. Wir saßen eine Weile in der dunklen Kabine und starrten auf den Film, dessen bedeutungslose deutsche Wörter aus dem Kopfhörer in meine Ohren drangen. Mark setzte seinen Kopfhörer ab und bot an, den Inhalt des Films zusammenzufassen; es war beeindruckend, mit welcher Intensität er das tat. Anschließend bedankte ich mich und fragte, ob ich ihn an der Bar auf ein Bier einladen könne. Mark legte den Kopfhörer weg und setzte seine Baseballkappe auf. Die Bar befand sich ebenfalls im Untergeschoss, gleich neben dem Ausstellungsraum, und war bis auf ein Paar, das auf einem Sofa in der Ecke saß, leer. Wir bestellten Bier.
„Woher kommst du?“, wollte er wissen.
„Ursprünglich aus Nigeria.“
„Kommt deine Frau auch aus Nigeria?“
„Nein, aus den USA.“
Er war Malawier, lebte aber seit mehr als fünf Jahren in Deutschland.
„Na dann, prost.“ Ich hob mein Glas.
„Auf Afrika“, sagte er.
„Auf Afrika.“
Ich versuchte, sein Alter zu schätzen. Irgendwas zwischen fünfundzwanzig und dreißig. Die Baseballkappe bedeckte den oberen Teil seines Gesichts und da er kleiner war als ich, musste ich mich dauernd hinabbeugen, um ihm in die Augen zu sehen. Er war meist im Aufbruch begriffen, von Stockholm nach Stuttgart nach Potsdam gezogen und nun in Berlin gelandet. Berlin gefalle ihm am besten.
„Sogar in Berlin sehne ich mich nach Berlin“, erklärte er mir an diesem Tag. Er war nur noch theoretisch Student, nicht mehr immatrikuliert, was mit den Studiengebühren zu tun und Auswirkungen auf seinen Aufenthaltsstatus hatte oder demnächst haben würde, weshalb er mit einigen Freunden die alte Kirche in Kreuzberg besetzt hatte. Für ein Taschengeld jobbte er gelegentlich für crew.com, einer Organisation für arbeitslose Schauspieler und Filmtechniker. Aber sein letzter Einsatz dort war schon länger her. Das alles erzählte er mir nicht damals in der Bar der Galerie, sondern später, auf mehrere Treffen verteilt. Er sah recht heruntergekommen aus, fast verwildert, seine schwarzen Converse waren dreckig und verschlissen, aber die von ihm ausgehende Lässigkeit zog mich an.
Als ich nach meinem zweiten, seinem dritten Bier meinte, ich müsse jetzt los, schlug er vor: „Komm, ich stell dich meinen Freunden vor, wir wohnen gleich um die Ecke.“
Ich folgte ihm hinaus in die Nacht. Mark schritt selbstbewusst voraus, einmal schlängelte er sich zwischen den Autos auf die andere Straßenseite durch, hob dabei matadorgleich die Hand, um einen Wagen zum Stehen zu bringen, der ihn fast umgefahren hätte. Unberührt vom lauten Fluchen der angetrunkenen Fahrer blieb er auf dem gegenüberliegenden Gehweg stehen und winkte mich ungeduldig herüber. Ich wartete, bis die Ampel auf Grün schaltete, und war nicht sicher, ob ich seine halsbrecherische Selbstsicherheit beeindruckend oder erschreckend finden sollte.
„Das ist ja eine Kirche“, entfuhr es mir halb fragend, halb konstatierend, als er das Törchen öffnete und mich hereinwinkte.
„Ja, hier leben wir momentan. Vorübergehend.“
Alle drei Mitbewohner waren anwesend. Eric, Stan und Uta. Ich nickte ihnen zu und setzte mich neben Mark. Auf Marks Bemerkung, ich sei ebenfalls Afrikaner, erzählte mir Uta sofort, ihre Mutter stamme aus Kamerun, ihr Vater sei Deutscher. Sie lag auf dem Sofa, die Beine in Stans Schoß, Stan neben ihr saß halb, lag halb und seine langen Dreadlocks fielen über seine Schultern und die Sofalehne. Wir befanden uns im sogenannten Wohnzimmer, das im Keller lag und wo früher die Sonntagsschule abgehalten worden war. An einer Wand hing eine Tafel, davor stand ein hölzernes Lesepult. Auf einem zerkratzten Kieferntisch, in dessen Maserung sich Schmutz abgelagert hatte, standen Bierflaschen. Mark machte mir eine auf. Eric hielt in der einen Hand einen Joint, mit der anderen surfte er mit einem Laptop im Internet.
„Was machst du so?“, fragte Uta in ihrem stockenden Englisch.
„Daheim in den USA unterrichte ich. Hier auch.“ Einmal die Woche gab ich den Zimmer-Fellows, die kein Englisch sprachen, Englischunterricht. Uta studierte an der Freien Universität und schrieb gerade an einem Roman.
„Einem Roman?“
„Der Roman ist tot“, verkündete Mark. „Das Kino ist die Gegenwart und die Zukunft.“
„Ist das dein Ernst?“
„Ein Film ist wie ein Roman, bloß ohne die langweiligen Stellen.“
Ich zog am Joint, der irgendwie in meine Hand gewandert war. Mir wurde schwindlig.
Das Gespräch mäanderte dahin, versiegte in nachdenklichem, nie bedrückendem Schweigen, ehe es wieder aufgenommen wurde und in eine völlig andere Richtung floss. Eric erzählte von der letzten Demonstration, an der sie teilgenommen hatten. Sie waren in Davos und bei verschiedenen G20-Treffen überall auf der Welt gewesen.
„Gegen was demonstriert ihr?“, wollte ich wissen.
Überrascht starrten sie mich an.
„Mann, gegen alles natürlich“, sagte Stan.
„Gegen alles?“
„Wir sind der Meinung, dass es eine Alternative zu der Art und Weise geben sollte, wie die Welt momentan regiert wird“, sagte Eric.
„Eine Minorität, die über die Majorität des Geldes verfügt“, ergänzte Uta.
„In Asien müssen Millionen unter menschenverachtenden Bedingungen schuften. In vielen Ländern Afrikas herrscht Krieg“, sagte Stan.
„Im 21. Jahrhundert sollte kein Kind mehr verhungern oder durch Krankheit sterben müssen“, sagte Uta.
Ich nickte. Ich hatte schon andere junge Leute wie sie in Berlin getroffen, bei Lesungen, in der S-Bahn, Männer und Frauen in ausgefransten Pullovern und abgerissenen Jeans, die meistens in einer Kommune in leerstehenden Gebäuden wohnten, eine alternative Lebensweise vertraten, sich oft nicht einig waren, wie nun diese Alternative genau aussehen sollte, eben eine Alternative zum Istzustand, sonst wäre die Sache ja sinnlos. Ich trank und rauchte, hörte zu. Auf einmal stellte sich Mark hinter den Altar und las eine Bibelstelle vor. Sein Vater war Pfarrer und er machte sich über dessen Predigtstil lustig. Mit erhobenen Händen stand er da, verdrehte die Augen und donnerte: „Der Sommer ist dahin, die Ernte ist vergangen, und uns ist keine Hilfe gekommen …“
Die anderen klatschten. Ich war mir nicht sicher, ob in Marks Stimme Selbstironie mitschwang, oder ob sich in seinem Gesicht nicht sogar echter Schmerz abzeichnete, als er sich zum Applaus verbeugte, bevor er sich wieder hinsetzte. Sie erzählten, wie er, als er vor einem Monat hier eingezogen sei, die Kirche entwidmet habe. „Ein Ort, der heimgesucht war. Ich konnte die Geister