Maigret verliert eine Verehrerin. Georges Simenon

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Maigret verliert eine Verehrerin - Georges  Simenon Georges Simenon

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       Der 22. Fall

      Georges Simenon

      Maigret verliert eine Verehrerin

      Roman

      Aus dem Französischen von Hansjürgen Wille, Barbara Klau und Julia Becker

      Kampa

      Erster Teil

      1

      Die Pfeife, die sich Maigret auf seiner Türschwelle am Boulevard Richard-Lenoir ansteckte, schmeckte ihm an diesem Morgen viel besser als sonst. Der erste Nebel war für ihn eine ebenso freudige Überraschung wie für Kinder der erste Schnee, zumal es nicht dieser hässliche gelbliche Nebel mancher Wintertage war, sondern ein milchig weißer Dunst, in dem gedämpfte Lichter umherwanderten. Es war kühl, und die Schritte hallten laut auf dem Straßenpflaster.

      Die Hände in den Taschen seines dicken Mantels mit dem Samtkragen, der am Quai des Orfèvres berühmt war und noch ein wenig nach Mottenkugeln roch, den steifen Hut tief in die Stirn gedrückt, schlenderte Maigret gemächlich zum Quai, und es amüsierte ihn, als plötzlich ein Mädchen im Laufschritt aus dem Nebel auftauchte und gegen seine dunkle, massige Gestalt stieß.

      »Oh, Verzeihung, Monsieur …«

      Und schon lief sie noch schneller weiter, um nicht ihren Bus oder die Metro zu verpassen.

      An diesem Morgen schien sich ganz Paris wie der Kommissar über den Nebel zu freuen, und nur das heisere Tuten der Schlepper auf der Seine, die nicht zu sehen waren, klang beunruhigend.

      Eine Erinnerung sollte sich Maigret ohne einen bestimmten Grund einprägen: Gerade hatte er auf dem Weg zum Boulevard Henri-IV die Place de la Bastille überquert, als er an einem kleinen Bistro vorbeikam. Die Tür öffnete sich – zum ersten Mal in diesem Herbst war es so kühl, dass man gezwungen war, die Türen der Cafés zu schließen –, und Maigret schlug ein Duft entgegen, der für ihn der Inbegriff des Tagesanbruchs in Paris war: der Geruch von Milchkaffee und warmen Croissants, gemischt mit einem Hauch von Rum. Hinter den beschlagenen Scheiben erahnte er zehn, vielleicht auch fünfzehn oder zwanzig Männer, die an die Zinntheke gelehnt frühstückten, ehe sie zur Arbeit eilten.

      Um Punkt neun Uhr ging er durch den Torbogen der Kriminalpolizei und dann zusammen mit mehreren Kollegen die große, immer staubige Treppe hinauf. Kaum befand sich sein Kopf auf Höhe des ersten Stocks, warf er einen Blick durch die Glasscheibe des Warteraums, und als er Cécile auf einem der grünen, samtbezogenen Stühle sitzen sah, runzelte er die Stirn.

      Genau genommen tat er nur so, als wäre er verstimmt.

      »Na, sagen Sie mal, Maigret … Da ist sie ja schon wieder!«

      Es war Cassieux, der Leiter des Sittendezernats, der gleich hinter ihm kam. Und das Gespött würde weitergehen, wie bei jedem Besuch von Cécile.

      Maigret versuchte an ihr vorbeizukommen, ohne dass sie ihn sah. Wie lange saß sie schon dort? Sie brachte es fertig, stundenlang reglos auf demselben Platz auszuharren, beide Hände auf ihrer Handtasche und den lächerlichen grünen Hut ein wenig schief auf dem straff zurückgekämmten Haar.

      Natürlich bemerkte sie den Kommissar! Sie sprang auf, ihr Mund öffnete sich. Wegen der Glaswand hörte man nichts, aber vermutlich seufzte sie:

      »Endlich!«

      Maigret duckte sich und hastete in sein Büro am Ende des Flurs. Der Bürodiener kam herein, um ihm zu melden …

      »Ich weiß, ich weiß … Aber ich habe jetzt keine Zeit«, brummte Maigret.

      Wegen des Nebels musste er die Schreibtischlampe mit dem grünen Schirm anschalten. Er legte Mantel und Hut ab, betrachtete den Ofen und dachte: Wenn es morgen auch noch so kalt ist, werde ich verlangen, dass man heizt. Er rieb sich die kalten Hände, setzte sich schwerfällig auf seinen Sessel, stieß einen wohligen Seufzer aus und griff zum Telefonhörer.

      »Hallo? … Bin ich mit dem Vieux Normand verbunden? … Holen Sie bitte Monsieur Janvier an den Apparat … Hallo? … Bist du’s, Janvier?«

      Inspektor Janvier sollte seit sieben Uhr früh an einem Tisch in dem kleinen Restaurant in der Rue Saint-Antoine sitzen und von dort aus das Hôtel des Arcades überwachen.

      »Gibt’s was Neues?«

      »Sie sind alle im Nest, Chef. Die Frau ist vor einer halben Stunde weggegangen, um Brot, Butter und Kaffee zu besorgen. Sie ist gerade zurückgekommen.«

      »Ist Lucas auf seinem Posten?«

      »Ich habe ihn am Fenster gesehen, als ich kam.«

      »Gut. Jourdan wird dich bald ablösen. Bist du nicht schon ganz durchgefroren?«

      »Ein bisschen. Es geht noch.«

      Maigret lächelte bei dem Gedanken an Lucas, den Inspektor, der sich seit vier Tagen als gebrechlicher alter Mann ausgab. Es ging darum, eine Bande von Polen zu überwachen, die zu fünft oder sechst in einem kläglichen Zimmer des ebenso kläglichen Hôtel des Arcades hausten. Bis jetzt hatte man keinen Beweis gegen sie. Man wusste nur, dass einer von ihnen, den sie den »Baron« nannten, im Wettbüro von Longchamp einen der Geldscheine gewechselt hatte, die auf dem Bauernhof Vansittart gestohlen worden waren.

      Wie ziellos bewegten sich diese Leute in Paris umher und kamen immer wieder in der Rue de Birague bei einer jungen Frau zusammen, von der man weder wusste, wessen Geliebte sie war noch welche Rolle sie eigentlich spielte.

      Als kranker Alter verkleidet und mit mehreren Schals vermummt, beobachtete Lucas die Bande von morgens bis abends vom Fenster einer gegenüberliegenden Wohnung.

      Maigret stand auf, um seine Pfeife im Kohleneimer auszuklopfen. Während er aus seiner Sammlung auf dem Schreibtisch eine neue aussuchte, fiel sein Blick auf Céciles Anmeldezettel, doch gerade als er lesen wollte, was sie geschrieben hatte, ertönte auf dem Flur ein schrilles Klingeln.

      Der Rapport! Er griff nach den bereitliegenden Akten und begab sich wie alle Abteilungsleiter in das Büro des Direktors der Kriminalpolizei. Es war die allmorgendliche kleine Zeremonie. Der Chef hatte langes weißes Haar und einen kleinen Spitzbart wie ein Musketier. Man schüttelte einander die Hände.

      »Haben Sie sie gesehen?«

      Maigret spielte den Ahnungslosen.

      »Wen?«

      »Cécile! Also, wenn ich Ihre Frau wäre …«

      Arme Cécile! Dabei war sie noch so jung: gerade achtundzwanzig, wie Maigret aus ihren Papieren wusste. Aber trotz ihrer Bemühungen, sich hübsch zu machen, wirkte sie schon wie eine hässliche alte Jungfer. Ihre schwarzen Kleider, die sie sich vermutlich nach schlechten Mustern selbst schneiderte … Dieser lächerliche grüne Hut … Unmöglich, darunter weibliche Reize zu vermuten. Ein zu blasses Gesicht, und zu allem Überfluss hatte sie auch noch einen Sehfehler.

      »Sie schielt!«, behauptete Kommissar Cassieux.

      Er übertrieb. Man konnte nicht sagen, dass sie wirklich schielte, aber ihr linkes Auge blickte in eine etwas andere Richtung als ihr rechtes.

      Schicksalsergeben

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