Italienische Reise. Johann Wolfgang Goethe
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Der Palast Bevilaqua enthält die köstlichsten Sachen. Ein sogenanntes Paradies von Tintorett, eigentlich aber die Krönung der Maria zur Himmelskönigin in Gegenwart aller Erzväter, Propheten, Apostel, Heiligen, Engel usw., eine Gelegenheit, den ganzen Reichtum des glücklichen Genies zu entwickeln. Leichtigkeit des Pinsels, Geist, Mannigfaltigkeit des Ausdrucks, dies alles zu bewundern und sich dessen zu erfreuen, müsste man das Stück selbst besitzen und es zeitlebens vor Augen haben. Die Arbeit geht ins Unendliche, ja die letzten in der Glorie verschwindenden Engelsköpfe haben noch Charakter. Die größten Figuren mögen einen Fuß hoch sein, Maria und Christus, der ihr die Krone aufsetzt, etwa vier Zoll. Die Eva ist doch das schönste Weibchen auf dem Bilde und noch immer von alters her ein wenig lüstern.
Ein paar Porträte von Paul Veronese haben meine Hochachtung für diesen Künstler nur vermehrt. Die Antikensammlung ist herrlich, ein hingestreckter Sohn der Niobe köstlich, die Büsten ungeachtet ihrer restaurierten Nasen meistens höchst interessant, ein August mit der Bürgerkrone, ein Caligula und andere.
Es liegt in meiner Natur, das Große und Schöne willig und mit Freuden zu verehren, und diese Anlage an so herrlichen Gegenständen Tag für Tag, Stunde für Stunde auszubilden, ist das seligste aller Gefühle.
In einem Lande, wo man des Tages genießt, besonders aber des Abends sich erfreut, ist es höchst bedeutend, wenn die Nacht einbricht. Dann hört die Arbeit auf, dann kehrt der Spaziergänger zurück, der Vater will seine Tochter wieder zu Hause sehen, der Tag hat ein Ende; doch was Tag sei, wissen wir Cimmerier kaum. In ewigem Nebel und Trübe ist es uns einerlei, ob es Tag oder Nacht ist; denn wieviel Zeit können wir uns unter freiem Himmel wahrhaft ergehen und ergötzen? Wie hier die Nacht eintritt, ist der Tag entschieden vorbei, der aus Abend und Morgen bestand, vierundzwanzig Stunden sind verlebt, eine neue Rechnung geht an, die Glocken läuten, der Rosenkranz wird gebetet, mit brennender Lampe tritt die Magd in das Zimmer und spricht: »Felicissima notte!« Diese Epoche verändert sich mit jeder Jahreszeit, und der Mensch, der hier lebendig lebt, kann nicht irre werden, weil jeder Genuss seines Daseins sich nicht auf die Stunde, sondern auf die Tageszeit bezieht. Zwänge man dem Volke einen deutschen Zeiger auf, so würde man es verwirrt machen, denn der seinige ist innigst mit seiner Natur verwebt. Anderthalb Stunden, eine Stunde vor Nacht fängt der Adel an auszufahren, es geht auf den Brà, die lange, breite Straße nach der Porta Nuova zu, das Tor hinaus, an der Stadt hin, und wie es Nacht schlägt, kehrt alles um. Teils fahren sie an die Kirchen, das »Ave Maria della sera« zu beten, teils halten sie auf dem Brà, die Kavaliers treten an die Kutschen, unterhalten sich mit den Damen, und es dauert eine Weile; ich habe das Ende niemals abgewartet, die Fußgänger bleiben weit in die Nacht. Heute war gerade so viel Regen niedergegangen, um den Staub zu löschen, es war wirklich ein lebendiger, munterer Anblick.
Um mich ferner in einem wichtigen Punkte der Landesgewohnheit gleichzustellen, habe ich mir ein Hülfsmittel erdacht, wie ich ihre Stundenrechnung mir leichter zu eigen machte. Nachfolgendes Bild kann davon einen Begriff geben. Der innere Kreis bedeutet unsere vierundzwanzig Stunden von Mitternacht zu Mitternacht, in zweimal zwölf geteilt, wie wir zählen und unsere Uhren sie zeigen. Der mittlere Kreis deutet an, wie die Glocken in der jetzigen Jahreszeit hier schlagen, nämlich gleichfalls zweimal bis zwölf in vierundzwanzig Stunden, allein dergestalt, dass es eins schlägt, wenn es bei uns acht schlüge, und so fort, bis zwölfe voll sind. Morgens acht Uhr nach unserm Zeiger schlägt es wieder eins usf. Der oberste Kreis zeigt nun endlich, wie bis vierundzwanzig im Leben gezählt wird. Ich höre z. B. in der Nacht sieben schlagen und weiß, dass Mitternacht um fünf ist, so ziehe ich die Zahl von jener ab, und habe also zwei Uhr Nachmitternacht. Hör ich am Tage sieben schlagen und weiß, dass auch Mittag um fünf Uhr ist, so verfahre ich ebenso und habe zwei Uhr Nachmittag. Will ich aber die Stunden nach hiesiger Weise aussprechen, so muss ich wissen, dass Mittag siebenzehn Uhr ist, hiezu füge ich noch die zwei und sage neunzehn Uhr. Wenn man dies zum erstenmal hört und überdenkt, so scheint es höchst verworren und schwer durchzuführen; man wird es aber gar bald gewohnt und findet diese Beschäftigung unterhaltend, wie sich auch das Volk an dem ewigen Hin- und Widerrechnen ergötzt, wie Kinder an leicht zu überwindenden Schwierigkeiten. Sie haben ohnedies immer die Finger in der Luft, rechnen alles im Kopfe und machen sich gern mit Zahlen zu schaffen. Ferner ist dem Inländer die Sache so viel leichter, weil er sich um Mittag und Mitternacht eigentlich nicht bekümmert und nicht, wie der Fremde in diesem Lande tut, zwei Zeiger miteinander vergleicht. Sie zählen nur von Abend die Stunden, wie sie schlagen, am Tag addieren sie die Zahl zu der ihnen bekannten abwechselnden Mittagszahl. Das Weitere erläutern die der Figur beigefügten Anmerkungen.
(Siehe das nebenstehende Blatt.)
Vergleichungskreis
der
italienischen und deutschen Uhr, auch der italienischen
Zeiger für die zweite Hälfte des Septembers.
Mittag
Verona, den 17. September
Das Volk rührt sich hier sehr lebhaft durcheinander, besonders in einigen Straßen, wo Kaufläden und Handwerksbuden aneinanderstoßen, sieht es recht lustig aus. Da ist nicht etwa eine Tür vor dem Laden oder Arbeitszimmer, nein, die ganze Breite des Hauses ist offen, man sieht bis in die Tiefe und alles, was darin vorgeht. Die Schneider nähen, die Schuster ziehen und pochen, alle halb auf der Gasse; ja die Werkstätten machen einen Teil der Straße. Abends, wenn Lichter brennen, sieht es recht lebendig.
Auf den Plätzen ist es an Markttagen sehr voll, Gemüse und Früchte unübersehlich, Knoblauch und Zwiebeln nach Herzenslust. Übrigens schreien, schäkern und singen sie den ganzen Tag, werfen und balgen sich, jauchzen und lachen unaufhörlich. Die milde Luft, die wohlfeile Nahrung lässt sie leicht leben. Alles, was nur kann, ist unter freiem Himmel.
Nachts geht nun das Singen und Lärmen recht an. Das Liedchen von Marlborough hört man auf allen Straßen, dann ein Hackebrett, eine Violine. Sie üben sich, alle Vögel mit Pfeifen nachzumachen. Die wunderlichsten Töne brechen überall hervor. Ein solches Übergefühl des Daseins verleiht ein mildes Klima auch der Armut, und der Schatten des Volks scheint selbst noch ehrwürdig.
Die uns so sehr auffallende Unreinlichkeit und wenige Bequemlichkeit der Häuser entspringt auch daher: sie sind immer draußen, und in ihrer Sorglosigkeit denken sie an nichts. Dem Volk ist alles recht und gut, der Mittelmann lebt auch von einem Tag zum andern, der Reiche und Vornehme schließt sich in seine Wohnung, die eben auch nicht so wohnlich ist wie im Norden. Ihre Gesellschaften halten sie in öffentlichen Versammlungshäusern. Vorhöfe und Säulengänge sind alle mit Unrat besudelt, und es geht ganz natürlich zu. Das Volk fühlt sich immer vor. Der Reiche kann reich sein, Paläste bauen, der Nobile darf regieren, aber wenn er einen Säulengang, einen Vorhof anlegt, so bedient sich das Volk dessen zu seinem Bedürfnis, und es hat kein dringenderes, als das so schnell wie möglich loszuwerden, was es so häufig als möglich zu sich genommen hat. Will einer das nicht leiden, so muss er nicht den großen Herrn spielen, d. h. er muss nicht tun, als wenn ein Teil seiner Wohnung dem Publikum angehöre, er macht seine Türe zu, und so ist es auch gut. An öffentlichen Gebäuden lässt sich das Volk sein Recht nun gar nicht nehmen, und