Der Irrläufer. Gudmund Vindland

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Der Irrläufer - Gudmund Vindland

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      Gudmund Vindland

      Der Irrläufer

      Roman

      Aus dem Norwegischen

      von Gabriele Haefs

      Lindhardt und Ringhof

      Teil I

      Knospen bersten

      Der Jüngling

      Über dem Wald liegt Dämmerung. Je heller das Licht wird, desto bleicher werden die Sterne am Himmel. Tief im Südwesten ist die Mondsichel noch schwach zu sehen. In der Rodung liegt wieder viel Schnee, unter den Bäumen nicht. Die ganze Woche lang hat es gleichmäßig geregnet. Kälteschwaden ziehen langsam ins Tal hinunter. In den Senken verdichten sie sich, und man kann nur die herausragenden Baumspitzen sehen.

      Aus einem solchen Nebelpolster trottet ein kleines Geschöpf hervor. Ein Junge. Das bin ich. Ich heiße Yngve. Ich arbeite mich zielbewußt voran. Stapfe durch den klebrigen Schnee. Ich bin kaputt, schweißnaß. Die Haare kleben mir an der Stirn. Ich will oben auf den Hügel. Versuche, unter den Kiefern zu gehen, da ist weniger Schnee. Ich kämpfe mich über die weichen Schneewehen hinweg.

      Endlich bin ich oben bei dem großen Stein. Unserem Stein. Ich taumle darauf zu und falle daneben, auf den Zweigen der Fichte krümme ich mich zusammen.

      Mein keuchender Atem beruhigt sich nicht.

      Bald heult es aus meinem Versteck, wie ein angeschossenes Tier.

      Weinen ist schlecht, aber mir tut es gut. Nach einer Weile werde ich ruhiger und erhebe mich. Sehe, wie die Sonne durch die Baumwipfel auf den Bergrücken fällt. Ich schluchze noch ein bißchen, trockne mir mit der Hand das Gesicht ab und klettere auf den Stein. Auf unseren Stein. Dann setze ich mich auf ein Mooskissen und starre in das rotgelbe Licht, lasse die Sonne in mich eindringen, um alle Gefühle wegzupressen, alle Gedanken, alles. Aber das nützt nichts. Der Schrei baut sich auf. Ich muß das schreien, werfe mich über den Stein und schluchze: «Magnus, Magnus, Magnus ...»

      Dann setze ich mich plötzlich auf und spreche, klar und verbissen: «Du bist feige, feige! Du hast mich immer gekannt. Ich kenne dich so gut wie du dich selbst. Du hast genauso mitgemacht wie ich. Wir waren immer zwei! Jetzt traue ich mich endlich, das beim Namen zu nennen, was wir seit zwei Jahren wissen, und da haust du ab, du Arsch. Mein schöner Arsch. Ich weiß ja, das ist wegen deiner scheinheiligen Familie und Gott und sonst wem und aller Welt. Du brauchst nur das Wort zu hören, das unaussprechliche Wort ‹homosexuell›, und schon donnert das Echo in deinem Kopf: Unnormal! Abnorm! Sünde! Ach, Herrgott, Magnus, mein Junge, was soll nur aus uns werden? Was soll aus dir werden? Und was soll ich mit mir anfangen? Ich liebe dich, Magnus, nur dich ...»

      So liege ich da und wimmere, sehne mich und fluche.

      Yngve Vilde heiße ich, und im Herbst werde ich sechzehn.

      Die Sonne scheint kalt auf mich und den feuchten Stein. Unseren Stein.

      Magnus

      In der vierten Klasse wurden wir Freunde. Wir waren gerade von Toten, wo meine Mutter, mein Bruder und ich zwei Jahre lang allein gelebt hatten, nach Lambertseter umgezogen. Mein Vater arbeitete in Oslo, hatte zur Untermiete gewohnt und auf eine Wohnung gespart. Ich war froh, als die Familie wieder zusammen war, aber in der Schule hatte ich es zuerst verdammt schwer. Ich wurde ausgelacht und gehänselt, weil ich einen anderen Dialekt sprach. Niemand wollte mit mir zu tun haben. Aber einmal, als zwei von den starken Jungs mich ganz besonders piesackten, mischte Magnus sich ein. Er war der Sohn des strengsten und frömmsten Lehrers, und niemand traute sich an ihn heran. «Ihr seid feige, er ist doch kleiner als ihr», sagte Magnus.

      Das reichte. Die starken Jungs verdrückten sich, und Magnus half mir hoch. Danach wurde ich ziemlich in Frieden gelassen, aber ich bekam weiterhin keinen richtigen Kontakt zur Klasse. Ich stand jetzt unter dem Schutz des «Schäferhündchens» und wurde verachtet. Aus Rache hatte ich immer die besten Noten, aber davon wurde die Sache auch nicht besser.

      Unsere Freundschaft wuchs langsam. Magnus ging oft zum christlichen Jugendclub und schleifte mich mit. Damals gab es für mich keine andere Möglichkeit, mit Gleichaltrigen zusammenzusein, aber dort gefiel es mir nicht. Ich hatte nur wenig für Jesus und für Kirchenlieder übrig – eine Abneigung, die ich wohl schon mit der Muttermilch eingesogen hatte.

      «Wenn du mit der einen Hand Gott um Speise bittest und in die andere hineinspuckst», sagte meine Mutter einmal, «was meinst du, in welcher Hand du nachher mehr hast?» Auch sie konnte in Gleichnissen reden, aber ihre waren sehr viel greifbarer als die aus der Heiligen Schrift. Ich ging weiter zum Jugendclub, Magnus zuliebe. Es dauerte länger als zwei Jahre, bis ich mir einzugestehen wagte, daß ich in ihn verliebt war. Diese Erkenntnis drängte sich mir unbarmherzig auf. Es war eine Katastrophe. Verwirrend und erschreckend. Einerseits die starken und warmen Gefühle. Guter Wille, Zärtlichkeit und Verlangen. Andererseits die Angst. Angst vor dem Unaussprechlichen. Vor der drohenden Verdammnis. Vor der eiskalten Einsamkeit. Ich konnte doch mit keinem darüber reden. Das war unvorstellbar.

      Zum ersten Mal in meinem Leben betete ich abends. «Lieber Jesus, erlöse mich von dem Übel und von allen sündhaften Gedanken.»

      Aber ich betete nur mit einer Hand – mit der anderen wichste ich. Ich konnte nicht schlafen, weil ich so geil war wie ein zum Platzen gefüllter Karnickelstall. Ich konnte einfach nicht anders. Ich dachte die ganze Zeit an Magnus, sah seinen Mund vor mir, seine Stupsnase, die großen braunen Augen und die dunklen Locken. Und seinen schönen Körper ... Ooooh! Danach betete ich weiter: «Lieber Gott und Jesus, Verzeihung! Bitte macht, daß ich nicht so bin, bitte macht, daß das vorbeigeht!» Aber es ging nicht vorbei. Die Wahrheit – die unveränderliche Wahrheit – legte sich um mich wie eine Zwangsjacke, immer enger, immer enger: Du bist homo!

      Im Jugendclub sangen wir ein schönes Lied:

      In der Jugend lernt man leicht,

       Denk, wie diese Zeit verstreicht.

      Wir gingen in Parallelklassen. Turnen hatten wir gemeinsam. Mit dreizehn wuchsen uns die ersten Haare über dem Pimmel, und im Sommer vor dem Konfirmandenunterricht kamen wir in den Stimmbruch. Wir trafen uns oft, lernten zusammen und brachten uns selber Gitarrespielen bei. Aber über vieles sprachen wir nicht. Ich traute mich einfach nicht, ihm zu sagen, wie es um mich stand. Denn was, wenn er mich dann nicht mehr sehen wollte? Dann wäre die Jugend jedenfalls vorbei. Für immer. Ich betete und wichste und weinte.

      Als wir eines Herbstabends bei Magnus Hausaufgaben machten, kam sein Vater ins Zimmer. Er war ein großer, kräftiger Mann, hatte ein strenges Gesicht und viele Haare in den Nasenlöchern. Er befahl uns spazierenzugehen. Es sei ungesund, immer drinnen zu hocken. Und außerdem könnten wir dann eine Mappe holen, die er in der Schule vergessen hatte. Es sei nicht eilig. Wir bekamen einen Schlüssel und machten uns auf den Weg.

      «Jetzt machen wir was Tolles!» rief Magnus. «Wir erforschen die Schule im Dunkeln. Das ist verboten, aber unheimlich spannend.»

      Es war unheimlich spannend. Wir schlichen auf geheimer, gefährlicher Mission in Gängen, Winkeln und Ecken herum. Das Verbotene erregte uns sehr.

      «Jetzt bin ich der Schurke, und du mußt mich fangen!» Magnus rannte in die Turnhalle, und ich hinterher. Wir waren überall, oben und unten. Tobten uns aus, so leise wie möglich. Schließlich fiel ich über ihn her und hielt ihn an den Beinen fest. Aber Magnus wand sich aus seiner Hose und entwischte. Ich mußte

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