Gesammelte historische Romane von Jakob Wassermann. Jakob Wassermann
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Stunde häufte sich auf Stunde, bis der Tag entstand, die Nacht sich vorbeischleppte und die Sonne sich prahlerisch entzündete und vom Morgen bis zum Abend fruchtlos ihren Bogen zog. Was beginnen, wenn nicht Schlaf die Glieder fesselte? Ein Grabesfrieden lag über der Welt. Alexander mußte zurückblicken. Dies Gefühl war ihm neu und erstaunlich, dies Hineinstarren in die Vergangenheit, dies Nachhallen längst vergessen geglaubter Töne, dies Erschaudern vor andern Möglichkeiten als denen, die ihm in seiner Lebenstrunkenheit so selbstverständlich erschienen waren. Er schloß die Augen, um diese Gesichte loszuwerden, er wollte sich gewaltsam wieder hineinträumen in das schäumende Meer, aber umsonst, die Wogen regten sich nicht, es blieb alles still, sein eigenes Herz schlug matt und langsam, das Blut war kühl, das Auge klar, der Traum zu Ende, die riesige Wolke, in der er so götterhaft geschritten und die ihm den Anblick der unabsehbaren Kette von Ursachen und Wirkungen entzogen, war von ihm abgeglitten. Wie alle andern Sterblichen schwerbeladen, mußte er weiterziehen. Doch was war es, was war dies Schwere?
Die Makedonier jagten Füchse, wilde Esel und schossen nach den Vögeln; oder sie lagen am Wasserbecken in den Ruinen und schnitten neunläufige Flöten aus dem Rohr des Schilfes. Düsterruhend horchten sie auf das Weben der Nacht, und wenn ein Schrei in der Luft erschallte, langgezogen und wunderbar menschlich, dachten sie erschreckt an den Vogel Asterias, der die Menschensprache versteht. Ihr Schlaf war aufgeregt wie der von kranken Kindern. Ängstlich legten sie einander ihre Träume aus. Sie waren verzagt in der Einsamkeit der Natur, gelähmt durch das ereignislose Vorübergleiten der müßigen Stunden. Sie wurden blaß, schlichen gesenkten Kopfes herum oder lagen faul im Gras, gewiß, daß ihnen ein sonderbarer Tod bevorstehe.
Da entschloß sich Eumenes, mit Alexander zu sprechen.
Es war ein klarer Mondabend. Alexander hatte das Zelt noch nicht verlassen. Er lag auf dem Ruhebett; auf silberner Schale neben ihm befand sich eine aufgeschnittene Melone, und bisweilen nahm er ein Stück in den Mund und saugte den Saft heraus. Das Mondlicht floß wie ein blaues Band vor den Eingang des Zeltes hin. Feierlich tönte der Schritt und Zuruf der Wachen. Ein auftauchender Schatten, ein Gruß mit schwacher Stimme, und Eumenes stand vor Alexander, der unwillig überrascht den Kopf erhob.
Langsam, die Silben der Worte weit auseinanderdehnend, fragte Eumenes: »Wie lange noch, Alexander?«
Alexander antwortete nicht.
Eumenes, dessen scharfes langes Gesicht stets von innerer Wachsamkeit angespannt war, fuhr fort: »Wenn du auch alle vergessen hast, die dich lieben, so denke wenigstens an die, die dich hassen.«
Alexander stand auf, schritt zu Eumenes, legte beide Hände auf die Schultern des Mannes und raunte: »Wo bin ich, Freund? wo bin ich hingeraten?«
»Zwischen den Strömen sind wir,« erwiderte Eumenes etwas bestürzt.
Alexander nickte und lächelte fatal. Seine Stirne erschien durch die abgeschorenen Haare doppelt groß; tiefe Furchen gruben sich hinein, als er sagte: »Ich brauche Sicherheit, Eumenes.«
»Sicherheit?«
»Wie viel Zeit ist verflossen? Zieh dein Schwert heraus und laß uns sehen, ob es rostig geworden ist.«
Eumenes trat zurück. Die Worte blieben ihm in der Kehle stecken. Besinnend stand Alexander da. Wie ein Schlafender den Mörder zu ahnen vermag, der mit erhobenem Messer an seinem Bett steht, so war sein Inneres unruhig und voll dumpfer Bewegung.
Er ließ sein Pferd vorführen und ritt in die Mondnacht hinaus. Wunderliche Töne schallten aus der Ferne, ein leises Singen und Surren; oft klang es, als ob Menschen unter der Erde um Hilfe riefen. Der Himmel überzog sich jetzt mit Wolken. Da und dort klaffte es wie eine Wunde, aus der das Licht des unsichtbaren Mondes rann. Die Lagerfeuer waren verschwunden, zermalmend war die Einsamkeit.
Plötzlich spürte er, wie das Pferd, das er sich selbst überlassen hatte, über und über erschauderte. Es stieß einen scharfen gellenden Schrei aus und rannte mit weitgestreckten Füßen in die Dunkelheit. Weder Zuruf noch Zügel vermochten etwas. Seine Hufe zerschnitten wie Sensen das Gras. Die Schenkel gegen die Rippen des Tieres gepreßt, Kopf und Oberleib weit vorgebeugt, die Augen ruhig in die Nacht geheftet, so saß Alexander unbeweglich. Die Raserei des vernunftlosen Geschöpfes schien ihm wohlbegründet. Es wollte die versäumten Tage einholen, die Augenblicke zurückbringen, die nutzlos hinabgetropft waren in das Meer der Ewigkeit. Der schmerzliche, weit durch die Lüfte schallende Aufschrei des Rosses, die tolle Geschwindigkeit seines Laufes benahmen Alexander den Atem, stachelten seine Seele auf, erfüllten ihn mit einer trügerischen Wollust des Handelns, mit einer freudigen Angst des Eilens, und als er den Schaum, der aus dem Maul des Tieres drang, auf den Nüstern leuchten sah, beugte er sich herab und berührte mit den Lippen den Scheitel des Pferdes. Die Lagerfeuer tauchten aus der Ebene empor: Riesenfackeln. Dort war das Geschrei vernommen worden, man glaubte Alexander von wilden Tieren überfallen, und die aus dem Schlaf geschreckten Söldner rannten mit ihren Speeren in die Finsternis. Das Pferd Alexanders wirbelte sausend an ihnen vorüber. Noch einmal schrie es schmetternd, herzzereißend auf, dann brach es zusammen.
Auf seiner Lende hatte sich ein ellenlanger Skorpion festgeklammert.
Alexander ließ unverzüglich das Lager abbrechen. Sein flackerndes Auge spornte jeden stumm zur Eile. Vor Sonnenaufgang begann der Ritt gegen Süden.
Nach Babylon!
Der bloße Name versetzte die Söldner in Entzücken. Der weiß nichts von irdischer Glückseligkeit, hieß es unter ihnen, der nichts von Babylon weiß. Dort war Leben, Freude, Taumel, Vergessen, beständiges Verzehrtwerden vom Augenblick. Babylons Nähe war den Menschen gefährlich wie der Magnetberg den Schiffen. In den Raststunden standen sie am Rand des Lagers und spähten südwärts, ob ein Turm sichtbar würde oder eine Zinne der fabelhaften Stadt. Oft während des Rittes winkten zwei Freunde stillverstehend einander zu, und beim Aufbruch am Morgen sagten sie lächelnd statt des Grußes: Nach Babylon.
Achtes Kapitel.
Die Chaldäer
An einem goldschimmerndenTage zogen sie durch die Pforten der großen medischen Mauer, die das babylonische Land gegen Norden abschloß, aber schon zu verfallen begann. Nun tauchte Dorf auf Dorf empor in der Ruhe der Wohlhabenheit und des Friedens. Kanäle durchschnitten die Ebene nach allen Richtungen, in milchigem Blau lag der Himmel auf ihrem stillen Spiegel, glitzernd und schmal verloren sie sich in die Fernen. An den Ufern erhoben sich schwarz und ungefügig die Schöpfmaschinen, die Felder standen hochbehalmt, in den Palmenhainen lasen Frauen und Kinder die Datteln auf.
Am Ende des fünften Tages sahen sie den Euphratstrom, wie er sein grünes Wasser lautlos durch die Ebene trug, und die Häuser von Kis, eines kleinen mauerlosen Städtchens, und rings im kolossalen Bogen und am Ufer entlang gegen Süden lagerte das große Heer.
Durch Boten von der Ankunft Alexanders benachrichtigt, zog ihm Ptolemäos entgegen. Viele Söldner schlossen sich freiwillig an. Ihre Ungeduld, nach Babylon zu gelangen, war unbezähmbar. Sie redeten, träumten, phantasierten von nichts andrem. Viele hatten ihre Sklaven