Aristoteles: Metaphysik, Nikomachische Ethik, Das Organon, Die Physik & Die Dichtkunst. Aristoteles
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Für Furchtsamkeit und Kühnheit bildet die Mannhaftigkeit die rechte Mitte. Was hier die Überschreitung des Maßes anbetrifft, so gibt es für den, der an Furcht zuwenig hegt, wie in vielen anderen Fällen sonst, keinen besonderen Ausdruck; dagegen wer kühn ist im Übermaß heißt verwegen, und wer an Furcht zuviel, an Kühnheit zuwenig hat, der heißt feige.
Wo es sich um Genuß und Schmerz handelt, freilich nicht um jede Art davon, und insbesondere nicht um jede Art von Schmerz, da bildet die rechte Mitte die Besonnenheit, und das Überschreiten des Maßes heißt Ausgelassenheit. Solche, die in der Genußsucht hinter dem Maß zurückbleiben, werden nicht eben häufig gefunden. Man hat deshalb auch für sie keinen Ausdruck geprägt; vielleicht darf man sie unempfänglich, stumpf nennen.
In Geldangelegenheiten beim Geben und Nehmen bildet die rechte Mitte die Vornehmheit, das Überschreiten des Maßes und das Zuwenigtun Verschwendungssucht und Knickerei. Beide zeigen ein Übermaß und einen Mangel, nur beides in entgegengesetzter Richtung. Der Verschwender geht zu weit beim Ausgeben und nicht weit genug beim Erwerb; der Knickrige geht zu weit beim Erwerb und nicht weit genug beim Ausgeben. Für jetzt bezeichnen wir das alles nur im Umriß und ganz im allgemeinen und lassen es daran genug sein; an späterer Stelle werden wir darüber genauere Bestimmungen geben. Es kommen aber dem Gelde gegenüber noch andere Verhaltungsformen in Betracht, als rechte Mitte die Hochherzigkeit; zwischen dem Hochherzigen und dem Vornehmen besteht der Unterschied, daß es sich bei jenem um große, bei diesem um kleinere Summen handelt; das Überschreiten des Maßes aber heißt Protzentum und Plebejertum, das Zurückbleiben hinter dem Maße Unanständigkeit. Ein Unterschied besteht auch zwischen diesen Eigenschaften und denen, die die vornehme Gesinnung bezeichnen; welches dieser Unterschied ist, soll später dargelegt werden.
Für das Verhalten zu Ansehen und Geringschätzung bildet die rechte Mitte die Hochgesinntheit, das Überschreiten des Maßes etwa das, was man Großtuerei nennt, und das Zurückbleiben hinter dem Maß Niedrigkeit. Wir haben vorher das Verhältnis der Vornehmheit zur Hochherzigkeit dadurch bezeichnet, daß es sich bei jener um kleine Summen handelt; so steht auch der Hochgesinntheit, die auf hohe Ehren gerichtet ist, eine Gesinnung gegenüber, die sich auf geringere Ehren richtet. Denn es kann ebensowohl vorkommen, daß man nach Ansehen strebt so wie es recht ist, wie daß man mehr oder weniger als recht ist danach strebt. Wer in seinem Streben danach das Maß überschreitet, heißt ehrsüchtig; wer dahinter zurückbleibt, heißt gleichgültig; für den, der die rechte Mitte innehält, fehlt es an einem Ausdruck. Und ebenso auch für die betreffenden Verhaltungsarten, abgesehen von dem was den Ehrsüchtigen bezeichnet, also von der Ehrsucht. Daher nehmen beide Extreme den Platz in der Mitte für sich in Anspruch, und auch wir nennen wohl das eine Mal den der die rechte Mitte innehält einen Ehrgeizigen und das andere Mal einen Gleichgültigen, und das eine Mal loben wir den Ehrgeizigen und das andere Mal den Gleichgültigen. Woher das kommt, soll später dargelegt werden. Jetzt wollen wir von dem, was noch übrig bleibt, in demselben Sinne wie bisher zu handeln fortfahren.
Auch im Zornigsein gibt es ein Überschreiten des Maßes, ein Zurückbleiben hinter demselben und eine rechte Mitte. Da aber dafür eigentlich keine besonderen Ausdrücke existieren, so wollen wir die rechte Mitte Gelassenheit und den, der sie innehält, gelassen nennen, und von den Extremen soll, wer zu weit geht, jähzornig, und sein Fehler Jähzorn, wer nicht weit genug geht, etwa unempfindlich und seine Eigenschaft Unempfindlichkeit heißen.
Es gibt noch weitere drei Fälle der rechten Mitte, die miteinander eine Art von Verwandtschaft haben, aber doch auch wieder voneinander verschieden sind. Gemeinsam ist ihnen, daß sie sich sämtlich auf den Umgang mit Menschen in Wort und Tat beziehen; verschieden sind sie dadurch, daß der eine sich auf die Wahrhaftigkeit im Umgang, die beiden anderen auf die Gefälligkeit, und zwar der eine im Scherz, der andere in jederlei ernsten Angelegenheiten des Lebens bezieht. Auch von diesen muß die Rede sein, damit man um so besser sehen kann, daß die rechte Mitte bei ihnen allen das ist, was Lob verdient, während die Extreme weder das Rechte, noch das Löbliche, sondern das Tadelnswerte sind. Allerdings gibt es auch für die Mehrzahl von diesen keine besonderen Ausdrücke; wir müssen also wie bei den anderen versuchen, Namen für sie selbst zu prägen zum Zwecke der Deutlichkeit und Verständlichkeit.
Wer in bezug auf die Wahrhaftigkeit die rechte Mitte innehält, soll etwa wahrheitsliebend und die rechte Mitte selber Wahrheitsliebe heißen, dagegen die Neigung zum Erdichten, wenn sie auf Übertreibung ausgeht, Prahlerei, und wer sie betreibt prahlsüchtig, wenn sie auf Abschwächung geht, Ironie, und der Mensch ironisch heißen.
Handelt es sich um das Gefällige und zwar im heiteren geselligen Verkehr, so soll der, der die rechte Mitte hält, ein guter Gesellschafter, und seine Eigenschaft Unterhaltsamkeit, die Übertreibung Albernheit und der sie betreibt ein Possenreißer, wer zu wenig davon hat ein Unbeholfener und seine Eigenschaft Grobheit heißen. Das Gefällige betreffend, was nun noch übrig ist, in bezug auf den täglichen Umgang, so heißt der, der im rechten Maß gefällig ist, freundlich, und die rechte Mitte Freundlichkeit; wer es in zu hohem Grade ist, wenn ohne Nebenabsicht, liebedienerisch, wenn aber um seines eigenen Vorteils willen, kriechend. Wer es an dem rechten Maße fehlen läßt und in allen Dingen sich ungeberdig zeigt, mag etwa ungeschliffen und widerborstig heißen.
Nun gibt es aber auch eine rechte Mitte in den Empfindungen und in dem was mit ihnen zusammenhängt. Schamhaftigkeit ist keine Willensbeschaffenheit, aber sie erwirbt sich Lob, und ebenso der Schamhafte; denn auch dabei redet man von einer rechten Mitte, vom Zuviel und Zuwenig. Wer darin zu weit geht, der Blöde, ist der, der sich vor allem geniert; wer nicht weit genug geht und sich überhaupt vor nichts geniert, heißt unverschämt, dagegen wer die rechte Mitte hält, schamhaft. Gerechtigkeitsgefühl bildet die Mitte zwischen Neid und Schadenfreude; diese sind die Empfindungen von Schmerz und Freude über das, was dem Nächsten begegnet. Den Mann von Gerechtigkeitsgefühl verdrießt das Glück des Unwürdigen; den Neidischen, der weiter geht als dieser, verdrießt fremdes Glück überhaupt. Den Mann von Gerechtigkeitsgefühl betrübt unverdientes Leid anderer; der Schadenfrohe aber bleibt so weit hinter solcher Betrübnis zurück, daß er geradezu Freude darüber empfindet.
Indessen davon zu handeln, wird sich die Gelegenheit noch anderswo bieten. Dagegen von der Gerechtigkeit werden wir, da das Wort nicht bloß in einer Bedeutung gebraucht wird, später so handeln, daß wir die beiden Arten unterscheiden und dann von beiden aufzeigen, inwiefern dabei der Begriff der rechten Mitte Platz hat; und ebenso werden wir dann auch den Intellekt auf seine Bedeutung für die Sittlichkeit untersuchen.
Es gibt also drei Arten des Verhaltens; zwei davon, die eine, die ein Zuviel, und die andere, die ein Zuwenig bedeutet, sind fehlerhaft; die dritte, das Innehalten der rechten Mitte, ist das Richtige. Alle drei stehen zueinander eigentlich im Verhältnis des Gegensatzes. Die beiden ersteren sind der rechten Mitte und sind einander entgegengesetzt, und ebenso die Mitte den Extremen. Wie das was einem dritten gleich ist, im Verhältnis zum Kleineren das Größere, im Verhältnis zum Größeren das Kleinere ist, so bedeuten die Verhaltungsweisen, die die rechte Mitte innehalten, im Verhältnis zum Zuwenig ein Mehr und im Verhältnis zum Zuviel ein Weniger, und das ebensowohl beim Affiziertwerden wie beim Sichbetätigen. Der Mannhafte erscheint dem Feigen gegenüber verwegen, dem Verwegenen gegenüber feige; ebenso erscheint wer sich in der Gewalt hat dem gegenüber den nichts aufregt ausgelassen und dem Ausgelassenen gegenüber gefühllos, der Freigebige dem Knickrigen gegenüber verschwenderisch, dem Verschwender gegenüber knickrig. So lehnen denn die auf der extremen Seite Stehenden den der sich in der Mitte hält jeder von sich