Aristoteles: Metaphysik, Nikomachische Ethik, Das Organon, Die Physik & Die Dichtkunst. Aristoteles

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Aristoteles: Metaphysik, Nikomachische Ethik, Das Organon, Die Physik & Die Dichtkunst - Aristoteles

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Verhältnis zeigt sich auch in den übrigen Fällen.

      Während nun so diese zu einander im Gegensatz stehen, so ist doch der Gegensatz der Extreme untereinander der stärkste und stärker als der zur rechten Mitte. Denn die Entfernung zwischen jenen ist größer als die zwischen ihnen und der Mitte, geradeso wie das Große vom Kleinen und das Kleine vom Großen weiter absteht als beide vom Gleichen. Indessen gibt es gleichwohl Fälle, wo sich zwischen den Extremen und der rechten Mitte eine gewisse Verwandtschaft zeigt, so zwischen der Verwegenheit und der Mannhaftigkeit, zwischen der Verschwendung und der Freigebigkeit, während die Extreme untereinander am wenigsten verwandt sind. Was von einander am weitesten absteht, das bestimmt man begrifflich als das konträr Entgegengesetzte, und darum bedeutet auch weiterer Abstand schrofferen Gegensatz. Der Gegensatz zur rechten Mitte aber ist größer bald bei dem was ein Zuwenig, bald bei dem was ein Zuviel bedeutet. So bildet zur Mannhaftigkeit den schärferen Gegensatz nicht die Verwegenheit, die ein Zuviel, sondern die Feigheit, die ein Zuwenig bedeutet; dagegen zur Selbstbeherrschung wieder nicht die Unempfänglichkeit, die ein Zuwenig, sondern die Ausgelassenheit, die ein Zuviel bedeutet. Das stammt aus einem doppelten Grunde. Der Grund liegt einmal in der Sache selbst. Weil das eine der beiden Extreme der rechten Mitte näher liegt und verwandter ist, darum stellen wir jenem nicht diese, sondern das andere Extrem gegenüber. So z.B. bei der Mannhaftigkeit. Weil die Verwegenheit ihr näher und verwandter, die Feigheit minder verwandt erscheint, stellt man diese letztere in den Gegensatz zu ihr. Denn was von der Mitte weiter absteht, das, nimmt man an, bildet auch den schärferen Gegensatz zu ihr. Ist dies nun der eine Grund, der der Sache selbst entnommene, so liegt der andere in uns selbst. Wozu wir selber von Natur irgendwie die stärkere Hinneigung verspüren, das stellt sich uns in schärferem Gegensatz zur Mitte dar. So fühlen wir uns von Natur mehr zu dem hingezogen was uns Vergnügen macht, und es liegt uns die Ausgelassenheit näher als die Wohlanständigkeit. Wir bezeichnen also das als den schärferen Gegensatz, wozu wir uns mit stärkerer Kraft hingezogen fühlen, und deshalb ist der Gegensatz, in dem die Ausgelassenheit, die ein Zuviel besagt, zur Selbstbeherrschung steht, der schärfere.

      Darüber also, daß sittliche Tüchtigkeit das Innehalten der rechten Mitte und in welchem Sinne sie dies bedeutet, ferner daß das wo zwischen sie die rechte Mitte innehält die beiden fehlerhaften Abweichungen, das Zuviel und Zuwenig sind, und daß sie diese Beschaffenheit hat, weil sie im Affiziertwerden wie im Sichbetätigen die rechte Mitte sich zum Ziele zu setzen bestimmt ist, haben wir damit ausreichend gehandelt. Da liegt nun auch der Grund, weshalb es eine so schwierige Aufgabe ist, sittlich tüchtig zu sein. Denn in jedem einzelnen Falle die rechte Mitte zu treffen ist sehr schwer. So ist das Zentrum eines Kreises zu finden eine Aufgabe nicht für jedermann, sondern nur für den Kundigen. So ist es wohl jedermanns Sache und leicht, sich zu erzürnen oder sein Geld auszugeben und zu vertun; dagegen ist es nicht jedermanns Sache und nicht leicht, zu entscheiden, wem, wieviel, wann, zu welchem Zweck und in welcher Weise man geben soll. Das Richtige ist deshalb etwas Seltenes, etwas Preiswürdiges und Edles.

      Wer nach der rechten Mitte zielt, muß darum zunächst das lassen, was dazu im schärferen Gegensätze steht; so mahnt auch Kallypso:

      Abseits hier von dem Gischt und der Brandung lenke das Fahrzeug!

      Denn das eine der Extreme ist das mehr, das andere das weniger Fehlerhafte. Da nun die rechte Mitte zu treffen äußerst schwierig ist, so heißt es im Sprichwort, man müsse, wenn man die Fahrt zum zweiten Male macht, das kleinere Übel wählen, und das wird am ehesten in der bezeichneten Weise geschehen. Man muß sehen, in welche Richtung uns die eigene Neigung lenkt; denn den einen treibt seine Natur nach der, den anderen nach jener Richtung. Das aber läßt sich aus den Gefühlen der Lust und Unlust entnehmen, die in uns rege werden; und dann müssen wir uns in die entgegengesetzte Richtung wenden. Wenn wir uns von dem was fehlerhaft ist recht weit entfernen, dann werden wir zur rechten Mitte gelangen, gerade wie man es macht, wenn man krummes Holz gerade biegen will. Überall aber muß man am meisten vor dem auf der Hut sein was uns zusagt und vor der Lust daran; denn dabei ist unser Urteil nicht unbestochen. Wie die Volksältesten der Helena gegenüber empfanden, so müssen auch wir uns unserer Neigung gegenüber verhalten und uns durchweg ihren Ausspruch zum Wahlspruch machen. Denn wenn wir die Neigung in gleicher Weise heimschicken, werden wir minder irre gehen.

      Indem wir so verfahren, werden wir im ganzen und großen am ehesten imstande sein, die rechte Mitte zu treffen. Gewiß ist das schwierig, und am schwierigsten den Einzelfällen des Lebens gegenüber. Es ist nicht leicht genau anzugeben, in welcher Weise, wem gegenüber, bei welchem Anlaß und wie lange Zeit man sich dem Zorne überlassen soll. So rühmen auch wir zuweilen diejenigen die darin zu wenig tun und nennen sie sanftmütig, während wir ein anderesmal den schwer Zürnenden charaktervoll nennen. Wer vom Richtigen nur wenig abweicht, sei es nach der Seite des Zuviel oder des Zuwenig, der erfährt keinen Tadel, dagegen wohl der, der stärker abweicht; denn dieser entgeht nicht der Beobachtung. Aber bei welcher Grenze, bei welchem Quantum das Tadelnswerte anfängt, das läßt sich nicht so leicht begrifflich genau feststellen, wie es ja auch sonst bei Gegenständen der Erfahrung der Fall ist. Dergleichen gehört zu den Einzelfällen des Lebens, und das Urteil darüber ist Sache des unmittelbaren Gefühles. So viel also ist klar, daß überall das Innehalten der rechten Mitte Beifall verdient, daß aber wo eine Abweichung nötig wird, sie bald nach der Seite des Zuviel, bald nach der des Zuwenig stattzufinden hat. Denn auf diese Weise wird man am ehesten dazu gelangen, die Mitte und das Richtige zu treffen.

      II. Das freie und das unfreie Handeln

       Inhaltsverzeichnis

       1. Zwang und Irrtum

       2. Vorsatz und Überlegung

       3. Der Willensinhalt

       4. Das freie Wollen

      1. Zwang und Irrtum

       Inhaltsverzeichnis

      Da der sittliche Charakter sich in dem Verhalten gegenüber den Eindrücken der Gegenstände und in der tätigen Einwirkung auf die Gegenstände zeigt; da ferner frei gewollte Handlungen zu Lob oder Tadel, nicht frei gewollte Handlungen zur Nachsicht, bisweilen sogar zum Mitleid Anlaß geben: so ist es für den Forscher über die Fragen des sittlichen Lebens eine unumgängliche Aufgabe, die frei gewellten und die nicht frei gewellten Handlungen gegeneinander abzugrenzen; zugleich aber ist es eine Hilfeleistung für den Gesetzgeber, schon in Hinsicht auf die Zuerkennung von Ehrenerweisungen und Strafen.

      Als nicht frei gewollt gilt das, wozu jemand durch Zwang oder durch Irrtum veranlaßt wird. Durch Zwang bewirkt ist eine Handlung, deren bewegende Ursache außerhalb des Handelnden liegt. Dahin gehören zunächst solche Handlungen, bei denen derjenige, der etwas bewirkt oder erleidet. Überhaupt nicht mittätig ist; z.B. wenn jemanden ein Luftstoß fortträgt, oder auch wenn Menschen, die ihm zu befehlen haben, ihn zu etwas drängen. Wenn dagegen etwas getan wird aus Furcht vor einem größeren Übel oder aus Liebe zu einem wertvollen Gute / z.B. ein Machthaber, der über jemandes Eltern und Kinder Gewalt hat, befiehlt ihm etwas Schändliches zu tun, mit der Bestimmung, daß sie am Leben bleiben, falls er gehorcht, und den Tod erleiden müssen, falls er nicht gehorcht, / da kann man im Zweifel sein, ob die Handlung frei gewollt ist oder nicht. Ähnlich liegt der Fall, wo im Sturm Güter über Bord geworfen werden. Denn ohne weiteres wirft niemand sein Hab und Gut ins Meer; zur eigenen Rettung dagegen

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