Aristoteles: Metaphysik, Nikomachische Ethik, Das Organon, Die Physik & Die Dichtkunst. Aristoteles
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Читать онлайн книгу Aristoteles: Metaphysik, Nikomachische Ethik, Das Organon, Die Physik & Die Dichtkunst - Aristoteles страница 71
Man sieht das ferner auch daraus, daß die übrigen lebenden Wesen an der Eudämonie keinen Anteil haben, weil ihnen eine derartige Wirksamkeit vollkommen versagt bleibt. Der Götter Leben ist ganz und gar selig; das Leben des Menschen ist es nur so weit, als ihm ein Ebenbild einer derartigen Wirksamkeit zugänglich ist. Von den übrigen Lebewesen kommt keinem Eudämonie zu, weil es in keiner Weise an der reinen Betrachtung teil hat. So weit sich die reine Betrachtung erstreckt, so weit erstreckt sich auch die Eudämonie. Den Wesen, denen die reine Betrachtung in höherem Maße zukommt, kommt auch die Eudämonie in höherem Maße zu, nicht als bloßes Anhängsel, sondern gemäß dem Wesen der reinen Betrachtung; denn diese hat ihre Herrlichkeit an sich selbst. Und so erweist sich denn die Eudämonie als ein Zustand der Kontemplation.
Nun wird ja allerdings der Mensch als Mensch auch des äußeren Wohlergehens bedürfen. Denn die Naturausstattung ist für sich nicht ausreichend, um die Tätigkeit der reinen Betrachtung zuzulassen; es muß auch der Leib in rechter Beschaffenheit sein, er muß Nahrung und sonstige Pflege genießen. Dennoch darf man sich nicht der Meinung hingeben, daß jemand, um sich des Zustandes der Eudämonie zu erfreuen, wenn es doch nicht möglich ist ganz ohne die äußeren Güter glücklich zusein, deshalb vieler und umfangreicher Dinge bedürfe. Denn daß einer ein volles Genüge und die Möglichkeit der Betätigung habe, liegt nicht an dem großen Überschwang; man kann ganz wohl den Adel der Seele bewähren auch ohne daß man Länder und Meere beherrscht, und auch mit mäßigen Mitteln kann einer im Sinne der sittlichen Anforderung tätig sein. Das lehrt deutlich genug die tägliche Erfahrung. Sie zeigt, daß oft ein einfacher Privatmann nicht in geringerem, sondern eher in höherem Maße pflichtmäßig das Seine tut als die Großen dieser Erde. Es genügt völlig, wenn man gerade nur so viel hat; denn selig ist das Leben dessen, der seine sittliche Gesinnung wirksam betätigen darf. So hat auch Solon den Begriff des glücklichen Menschen wohl zutreffend bezeichnet, wenn er sagt, glücklich sei, wer mit äußeren Gütern mäßig ausgestattet, die edelsten Taten, / was er darunter verstand, / vollbracht und ein Leben der Selbstbeherrschung geführt habe. Denn es ist ganz wohl möglich, bei mäßigem Besitz seine Pflicht und Schuldigkeit zu tun. Auch bei Anaxagoras hat man den Eindruck daß er nicht den Reichen und nicht den Mächtigen als den Glücklichen betrachtet, wenn er sagt, es würde ihn nicht verwundern, wenn solch einer beim großen Haufen eine lächerliche Figur wäre. Denn die Masse urteilt nach dem Äußeren, das sie allein wahrzunehmen vermag. So dürfen wir denn annehmen, daß die Ansichten der erleuchtetsten Geister mit unseren Ausführungen übereinkommen, und eine solche Übereinstimmung bedeutet immerhin eine Bestätigung. Allerdings, die Wahrheit in Fragen des praktischen Lebens wird erst erwiesen auf Grund der erfahrungsmäßigen Tatsachen; denn diese bilden die entscheidende Probe. Was wir vorher dargelegt haben, das muß man darum prüfen. Indem man es an der Wirklichkeit des Lebens mißt. Stimmt es mit der Wirklichkeit, so muß man es gelten lassen; steht es dazu im Widerspruch, so darf man es für leeres Gerede halten.
Wer der Vernunft gemäß tätig ist und die Vernunft in sich pflegt, den darf man als den Menschen in der herrlichsten Lage und als den Liebling der Götter betrachten. Denn wenn die Götter irgendwie sich um die menschlichen Dinge bekümmern, wie es doch die allgemeine Ansicht ist, so ist es auch eine vernünftige Annahme, daß sie an dem ihre Freude haben, was das Herrlichste und das ihnen Verwandteste ist, / dies aber wird doch wohl die Vernunft sein, / und daß sie denjenigen, die dies am meisten lieben und schätzen, mit Gutem vergelten, als solchen die nach dem trachten was den Göttern wohlgefällig ist, und einen rechten und löblichen Wandel führen. Daß alles dies sich im höchsten Grade bei dem Menschen von erleuchteter Vernunft findet, ist nicht zu verkennen; also ist dieser der Liebling der Götter, und damit wird derselbe naturgemäß auch der höchsten Eudämonie genießen. Und so ersehen wir denn auch daraus, daß der Mensch mit erleuchteter Vernunft der glückseligste ist.
4. Staat, Gesetz, Zwang im Dienste des sittlichen Lebens
Wenn wir nun so über diese Dinge und über die sittlichen Beschaffenheiten, wenn wir auch über die sittlichen Gemeinschaften und über die Lustgefühle in großen Umrissen zwar, aber ausreichend gehandelt haben, dürfen wir uns dabei beruhigen, daß wir nunmehr mit unserem Vorhaben ans Ende gelangt sind? Oder ist nicht vielmehr, wie man zu sagen pflegt, in den Fragen des praktischen Lebens das Ziel nicht bloß dies, daß man das einzelne zu betrachten und zu erkennen, sondern vielmehr daß man das Erkannte auch handelnd zu bewähren vermöge? Wo es sich um die sittliche Gesinnung handelt, da ist es mit dem bloßen Wissen nicht getan: man muß auch versuchen es innezuhaben und auszuüben, oder wenn es andere Wege für uns gibt um tüchtig zu werden, so muß man diese benutzen. Wären Abhandlungen ausreichend, um die Menschen zur rechten Gesinnung umzubilden, so würden sie nach dem Ausspruch des Theognis reichen und großen Lohn einbringen, und das mit vollem Recht: es wäre die dringendste Pflicht, sich mit solchen zu versehen. Aber leider, man beobachtet wohl, wie sie junge Leute von edler Anlage anzutreiben und anzufeuern und ein edles, in Wahrheit zur Freude an allem Schönen geneigtes Gemüt unwandelbar im Guten zu befestigen die Kraft besitzen, daß sie aber die Masse zu edler Gesinnung zu erheben nicht imstande sind. Denn die Masse der Menschen ist so geartet, daß sie sich nicht von zarter Scheu bestimmen läßt, sondern von der Furcht, und schlechter Handlungen sich enthält nicht weil sie schimpflich sind, sondern weil sie Strafe eintragen. Indem sie ihren Affekten nachleben, jagen sie den ihrem Geschmack zusagenden Lüsten nach und den Mitteln dieser teilhaftig zu werden, und meiden die dem gegenüberstehenden Quellen der Unlust; von dem aber was edel und in Wahrheit köstlich ist haben sie keine Ahnung, weil sie es nie gekostet haben. Welche Belehrung wäre vermögend, derartige Leute umzubilden? Es ist nicht möglich oder doch nicht leicht, was von Alters her im Charakter tief eingewurzelt ist, durch Belehrung zu beseitigen. Wir dürfen schon von Glück reden, wenn wir da wo alle Vorbedingungen gegeben sind, die für die Erzeugung der rechten Gesinnung nach allgemeiner Ansicht entscheidend sind, von der sittlichen Charakterbeschaffenheit wenigstens einen Teil gewinnen.
Sittliche Tüchtigkeit erlangt man nach der einen Ansicht durch Naturanlage, nach der anderen durch Gewöhnung, nach der dritten durch Unterweisung. Was nun die Naturanlage anbetrifft, so ist es offenbar, daß sie nicht in unserer Macht liegt, sondern daß sie durch eine Art von göttlicher Gnade den in Wahrheit Gesegneten zuteil wird. Belehrung aber und Unterweisung hat keineswegs auf alle den genügenden Einfluß; es muß vielmehr die Seele des zu Unterrichtenden schon vorher durch Gewöhnung so weit vorbereitet worden sein, daß das Gefühlsleben in Zuneigung und Abneigung edel gestimmt ist, gleichsam wie ein Acker, der bestimmt ist den aufgenommenen Samen zur Entwicklung zubringen. Denn ein Mensch, der seinen Affekten folgt, wird auf das Wort der Ermahnung nicht achten; er wird es nicht einmal verstehen. Wie soll einer imstande sein, einen solchen Menschen durch Worte anderen Sinnes zu machen? Überhaupt darf man annehmen, daß der Affekt nicht der Belehrung weicht, sondern nur dem Zwange. Es muß also schon zuvor eine Gemütsart vorhanden sein, die irgendwie der sittlichen Gesinnung verwandt ist: Liebe zum Edlen und Widerwille gegen das Gemeine.
Nun ist es schwer, von Jugend an die rechte Anleitung zur sittlichen Gesinnung zu genießen, wenn man nicht unter der Herrschaft von Gesetzen aufwächst, die eben diese Bedeutung haben. Denn die Masse empfindet keine Neigung zu einem Leben der Selbstbeherrschung und Charakterfestigkeit, und ganz besonders gilt das von der Jugend. Darum wird es erforderlich, daß die Aufzucht und daß das Studium durch Gesetze fest geordnet werde. Denn was völlig in die Gewohnheit übergegangen ist, das wird nicht mehr als beschwerlich empfunden. Aber es ist nicht ausreichend, daß die Menschen, solange sie noch jung sind, die rechte Zucht und Sorgfalt genießen; sondern da es erforderlich ist, daß sie auch noch wenn sie zu Männern geworden sind eben diese Studien und Gewöhnungen pflegen, so werden gesetzliche Anordnungen auch zu diesem Behufe und damit überhaupt für das ganze Leben nötig sein. Denn die Masse unterwirft sich eher dem Zwange als der Belehrung, eher der Strafe als dem Gebot der Ehre. Darum sind manche der Meinung, der Gesetzgeber müsse einerseits