Der Mann ohne Eigenschaften. Robert Musil

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Der Mann ohne Eigenschaften - Robert Musil

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gesehen hatte; sie stand auf der Zehenspitze, hatte das Bein bis über das Strumpfband entblößt und schleuderte das andere Bein gegen ihren Kopf, während sie mit dem Schläger hoch ausholte, um einen Ball zu nehmen; dazu machte sie das Gesicht einer englischen Gouvernante. In dem gleichen Heft war eine Schwimmerin abgebildet, wie sie sich nach dem Wettkampf massieren ließ; zu Füßen und zu Häupten stand ihr je eine ernst zusehende Frauensperson in Straßenkleidung, während sie nackt auf einem Bett am Rücken lag, ein Knie in einer Stellung der Hingabe hochgezogen, und der Masseur daneben hatte die Hände darauf ruhen, trug einen Ärztekittel und blickte aus der Aufnahme heraus, als wäre dieses Frauenfleisch enthäutet und hinge auf einem Haken. Solche Dinge begann man damals zu sehen, und irgendwie muß man sie anerkennen, so wie man die Hochbauten anerkennt und die Elektrizität. «Man kann seiner eignen Zeit nicht böse sein, ohne selbst Schaden zu nehmen» fühlte Ulrich. Er war auch jederzeit bereit, alle diese Gestaltungen des Lebendigen zu lieben. Was er niemals zustande brachte, war bloß, sie restlos, so wie es das soziale Wohlgefühl erfordert, zu lieben; seit langem blieb ein Hauch von Abneigung über allem hegen, was er trieb und erlebte, ein Schatten von Ohnmacht und Einsamkeit, eine universale Abneigung, zu der er die ergänzende Neigung nicht finden konnte. Es war ihm zuweilen geradeso zumute, als wäre er mit einer Begabung geboren, für die es gegenwärtig kein Ziel gab.

      17

      Wirkung eines Mannes ohne Eigenschaften auf einen Mann mit Eigenschaften

      Während Ulrich sich mit Clarisse unterhielt, hatten die beiden nicht bemerkt, daß die Musik hinter ihnen zeitweilig aussetzte. Walter trat dann ans Fenster. Er konnte die beiden nicht sehn, aber er fühlte, daß sie knapp vor der Grenze seines Gesichtsfelds standen. Eifersucht quälte ihn. Gemeiner Rausch schwer sinnlicher Musik lockte ihn zurück. Das Klavier in seinem Rücken stand offen wie ein Bett, das ein Schläfer zerwühlt hat, der nicht aufwachen mag, um der Wirklichkeit nicht ins Gesicht sehen zu müssen. Die Eifersucht eines Gelähmten, der die Gesunden schreiten fühlt, peinigte ihn, und er brachte es nicht über sich, sich ihnen anzuschließen; denn sein Schmerz bot keine Möglichkeit, sich gegen sie zu verteidigen.

      Wenn Walter sich morgens erhob und ins Büro eilen mußte, wenn er tagsüber mit Menschen sprach und wenn er nachmittags zwischen ihnen nach Hause fuhr, fühlte er, daß er ein bedeutender Mensch sei und zu Besonderem berufen. Er glaubte dann alles anders zu sehen; ihn konnte das ergreifen, woran andere achtlos vorbeigingen, und wo andere achtlos nach einem Ding griffen, dort war für ihn schon die Bewegung des eigenen Arms voll geistiger Abenteuer oder in sich selbst verliebter Lähmung. Er war empfindsam, und sein Gefühl war immer bewegt von Grübeleien, Gruben, wogenden Tälern und Bergen; er war niemals gleichgültig, sondern sah in allem ein Glück oder ein Unglück und hatte dadurch stets die Gelegenheit zu lebhaften Gedanken. Solche Menschen üben eine ungewöhnliche Anziehung auf andere aus, weil sich die moralische Bewegung, in der sie sich unausgesetzt befinden, diesen mitteilt; in ihren Gesprächen nimmt alles eine persönliche Bedeutung an, und weil man sich im Verkehr mit ihnen unausgesetzt mit sich selbst beschäftigen darf, bereiten sie ein Vergnügen, das man sonst nur gegen Honorar bei einem Psychoanalytiker oder Individualpsychologen gewinnt, noch dazu mit dem Unterschied, daß man sich dort krank fühlt, während Walter den Menschen dazu verhalf, sich aus Gründen, die ihnen bisher entgangen waren, sehr wichtig vorzukommen. Mit dieser Eigenschaft, geistige Selbstbeschäftigung zu verbreiten, hatte er auch Clarisse erobert und mit der Zeit alle Mitbewerber aus dem Feld geschlagen; er konnte, weil ihm alles zu ethischer Bewegung wurde, überzeugend von der Unmoral des Ornaments, der Hygiene der glatten Form und dem Bierdunst der Wagnermusik sprechen, wie es dem neuen Kunstgeschmack entsprach, und selbst seinen zukünftigen Schwiegerpapa, der ein Malergehirn wie ein Pfauenrad hatte, setzte er damit in Schrecken. Es stand also außer Zweifel, daß Walter auf Erfolge zurückblicken durfte.

      Trotzdem, sobald er voll von Eindrücken und Plänen, die vielleicht so reif und neu waren wie nie vorher, zu Hause anlangte, ging jetzt eine entmutigende Veränderung mit ihm vor. Er brauchte nur eine Leinwand auf die Staffelei zu stellen oder ein Papier auf den Tisch zu legen, so war dies das Zeichen einer fürchterlichen Flucht aus seinem Herzen. Sein Kopf blieb klar, und der Plan darin schwebte gleichsam in einer sehr durchsichtigen und deutlichen Luft, ja der Plan spaltete sich und wurde zu zwei oder mehr Plänen, die um den Vorrang hätten streiten können; aber die Verbindung vom Kopf zu den ersten Bewegungen, die zur Ausführung notwendig gewesen wären, war wie abgeschnitten. Walter konnte sich nicht entschließen, auch nur einen Finger zu rühren. Er stand einfach nicht von dem Platz auf, wo er gerade saß, und seine Gedanken glitten an der Aufgabe, die er sich gestellt hatte, wie Schnee ab, der im Augenblick des Falls zergeht. Er wußte nicht, wovon die Zeit ausgefüllt wurde, aber ehe er sich dessen versah, ward es Abend, und da er nach einigen solchen Erfahrungen schon mit der Angst vor ihnen nach Hause kam, fingen ganze Wochenreihen zu gleiten an und vergingen wie ein wüster Halbschlaf. Durch Aussichtslosigkeit in allen seinen Entscheidungen und Bewegungen verlangsamt, litt er an bitterer Traurigkeit, und seine Unfähigkeit wurde zu einem Schmerz, der oft wie Nasenbluten hinter seiner Stirne saß, sobald er sich entschließen wollte, etwas zu unternehmen. Walter war furchtsam, und die Erscheinungen, die er an sich wahrnahm, hinderten ihn nicht nur an der Arbeit, sondern sie ängstigten ihn auch sehr; denn sie waren scheinbar so unabhängig von seinem Willen, daß sie oft auf ihn den Eindruck eines beginnenden geistigen Verfalls machten.

      Aber während sein Zustand im Lauf des letzten Jahres immer schlimmer geworden war, hatte er zugleich eine wunderbare Hilfe an einem Gedanken gefunden, den er früher nie genug geschätzt hatte. Dieser Gedanke war kein anderer als der, daß das Europa, in dem er zu leben gezwungen war, rettungslos entartet sei. In Zeitaltern, denen es äußerlich gut geht, während sie innerlich jenes Zurücksinken durchmachen, das wahrscheinlich jede Angelegenheit und darum auch die geistige Entwicklung erfährt, wenn man ihr nicht besondere Anstrengungen und neue Ideen zuwendet, müßte es wohl eigentlich die nächstliegende Frage sein, was man dagegen unternehmen könne; aber das Gewirr von klug, dumm, gemein, schön ist gerade in solchen Zeiten so dicht und verwickelt, daß es offenbar vielen Menschen einfacher erscheint, an ein Geheimnis zu glauben, weshalb sie einen unaufhaltsamen Niedergang von irgendetwas verkünden, das sich dem genauen Urteil entzieht und von feierlicher Unschärfe ist. Es ist dabei im Grunde ganz gleich, ob das die Rasse, die Pflanzenrohkost oder die Seele sein soll; denn wie bei jedem gesunden Pessimismus kommt es nur darauf an, daß man etwas Unentrinnbares hat, woran man sich halten kann. Auch Walter, obgleich er in besseren Jahren über solche Lehren zu lachen vermocht hatte, kam, als er es selbst mit ihnen zu versuchen begann, bald auf ihre großen Vorteile. War bis dahin er arbeitsunfähig gewesen und hatte sich schlecht gefühlt, so war jetzt die Zeit unfähig und er gesund. Sein Leben, das zu nichts geführt hatte, fand mit einemmal eine ungeheure Erklärung, eine Rechtfertigung in säkularen Ausmaßen, die seiner würdig war; ja es nahm geradezu die Art eines großen Opfers an, wenn er den Stift oder die Feder in die Hand nahm und wieder weglegte.

      Jedoch hatte Walter noch mit sich zu kämpfen, und Clarisse quälte ihn. Für zeitkritische Gespräche war sie nicht zu haben; sie glaubte schnurstracks an das Genie. Was das sei, wußte sie nicht; aber ihr ganzer Körper begann zu zittern und sich zu spannen, wenn davon die Rede war; man fühlt es oder man fühlt es nicht, das war ihr einziges Beweisstück. Immer blieb sie das kleine, grausame, fünfzehnjährige Mädchen für ihn. Niemals hatte sie sein Fühlen ganz verstanden oder hatte er sie beherrschen können. Aber so kalt und hart, wie sie war, und dann wieder so begeistert, mit ihrem substanzlos flammenden Willen, besaß sie eine geheimnisvolle Fähigkeit, auf ihn einzuwirken, als ob Stöße durch sie hindurch aus einer Richtung kämen, die in den drei Dimensionen des Raums nicht unterzubringen war. Es grenzte manchmal ans Unheimliche. Namentlich wenn sie gemeinsam musizierten, fühlte er das. Clarissens Spiel war hart und farblos, einem ihm fremden Gesetz der Erregung gehorchend; wenn die Körper bis zum Durchschimmern der Seele glühten, kam es erschreckend zu ihm herüber. Etwas Unbestimmbares riß sich dann los in ihr und drohte mit ihrem Geist davonzufliegen. Es kam aus einem geheimen Hohlraum in ihrem Wesen, den man ängstlich verschlossen halten mußte: er wußte nicht, woran er das fühlte und was es war; aber es peinigte ihn mit einer unaussprechlichen Angst und dem Bedürfnis, etwas Entscheidendes

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