Der Mann ohne Eigenschaften. Robert Musil

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Der Mann ohne Eigenschaften - Robert Musil страница 18

Автор:
Серия:
Издательство:
Der Mann ohne Eigenschaften - Robert Musil

Скачать книгу

selbst?!»

      «Ach, weiß ich’s!? Daß heute alles aufgelöst ist. Er sagt, alles ist jetzt steckengeblieben, nicht nur er. Aber er nimmt es nicht so übel wie du. Er hat mir einmal eine lange Geschichte erzählt: Wenn man das Wesen von tausend Menschen zerlegt, so stößt man auf zwei Dutzend Eigenschaften, Empfindungen, Ablaufarten, Aufbauformen und so weiter, aus denen sie alle bestehn. Und wenn man unseren Leib zerlegt, so findet man nur Wasser und einige Dutzend Stoffhäufchen, die darauf herumschwimmen. Das Wasser steigt in uns genau so wie in die Bäume, und es bildet die Tierleiber, wie es die Wolken bildet. Ich finde das hübsch. Man weiß dann bloß nicht recht, was man zu sich sagen soll. Und was man tun soll.» Clarisse kicherte. «Ich habe ihm darauf erzählt, daß du tagelang fischen gehst, wenn du frei hast, und am Wasser hegst.»

      «Nun, und? Ich möchte wissen, ob er das auch nur zehn Minuten aushielte? Aber Menschen» sagte Walter fest «tun das seit zehntausend Jahren, starren den Himmel an, spüren die Erdwärme und zerlegen das so wenig wie man seine Mutter zerlegt!»

      Clarisse mußte wieder kichern. «Er sagt, das hat sich seither sehr verwickelt. So wie wir auf dem Wasser schwimmen, schwimmen wir auch in einem Meer von Feuer, einem Sturm von Elektrizität, einem Himmel von Magnetismus, einem Sumpf von Wärme und so weiter. Alles aber unfühlbar. Zum Schluß bleiben überhaupt nur Formeln übrig. Und was die menschlich bedeuten, kann man nicht recht ausdrücken; das ist das Ganze. Ich habe schon vergessen, was ich im Lyzeum gelernt habe; aber irgendwie stimmt es wohl. Und wenn einer heute, sagt er, so wie der heilige Franziskus oder du zu den Vögeln Bruder sagen wolle, dann dürfe er sich’s nicht bloß so angenehm machen, sondern müsse sich auch entschließen können, in den Ofen zu fahren, durch die Leitungsstange einer Elektrischen in die Erde zu springen oder durch eine Abwaschvorrichtung in den Kanal zu pritscheln.»

      «Ja, ja!» unterbrach Walter diesen Bericht. «Erst werden aus den vier Elementen einige Dutzend, und zum Schluß schwimmen wir bloß noch auf Beziehungen, auf Vorgängen, auf einem Spülicht von Vorgängen und Formeln, auf irgendetwas, wovon man weder weiß, ob es ein Ding, ein Vorgang, ein Gedankengespenst oder ein Ebengottweißwas ist! Dann besteht zwischen einer Sonne und einem Zündholz kein Unterschied mehr, und zwischen dem Mund als dem einen Ende des Verdauungskanals und seinem anderen Ende auch keiner! Die gleiche Sache hat hundert Seiten, die Seite hundert Beziehungen, und an jeder hängen andere Gefühle. Das Menschenhirn hat dann glücklich die Dinge geteilt; aber die Dinge haben das Menschenherz geteilt!» Er war aufgesprungen; aber er blieb hinter dem Tisch stehen. «Clarisse!» sagte er. «Er ist eine Gefahr für dich! Schau, Clarisse, jeder Mensch braucht heute nichts so nötig wie Einfachheit, Erdnähe, Gesundheit – und ja, ganz gewiß, da kannst du sagen, was du willst – auch ein Kind, weil ein Kind es ist, was einen fest an den Boden bindet. Was dir Ulo erzählt, ist alles unmenschlich. Ich versichere dir, ich habe den Mut, wenn ich nach Hause komme, einfach mit dir Kaffee zu trinken, den Vögeln zuzuhören, ein bißchen spazierenzugehn, mit den Nachbarn ein paar Worte zu wechseln und den Tag ruhig ausklingen zu lassen: Das ist Menschenleben!»

      Die Zärtlichkeit dieser Vorstellungen hatte ihn langsam ihr näher geführt; aber sowie Vatergefühle von fern ihre sanfte Baßstimme erhoben, wurde Clarisse störrisch. Ihr Gesicht verstummte, während er sich ihr näherte, und nahm eine Verteidigungsstellung an.

      Als er bei ihr angelangt war, strömte er eine warme Sanftheit aus wie ein guter Bauernofen. Clarisse schwankte einen Augenblick in ihren Strömen. Dann sagte sie: «Nix, mein Lieber!» Sie raffte ein Stück Käse und Brot vom Tisch und küßte ihn rasch auf die Stirn.

      «Ich geh nachschaun, ob keine Nachtfalter da sind.»

      «Aber Clarisse,» bat Walter «in dieser Jahreszeit gibt es doch keine Schmetterlinge mehr.»

      «Ach, das kann man nicht wissen!»

      Es blieb von ihr nur das Lachen im Zimmer zurück. Mit ihrem Stück Brot und Käse streifte sie über die Wiesen; die Gegend War sicher, und sie brauchte keine Begleitung. Walters Zärtlichkeit sank zusammen wie ein vom Feuer zur Unzeit weggerissener Auflauf. Er seufzte tief auf. Dann setzte er sich zögernd wieder ans Klavier und schlug einige Tasten an. Ob er es wollte oder nicht, es wurden Phantasien über Motive aus Wagneropern daraus, und in dem Geplätscher dieser zuchtlos quellenden Substanz, die er sich einst in den Zeiten des Hochmuts versagt hatte, schilften und gurgelten seine Finger durch die Tonflut. Mochte man es weithin hören! Sein Rückenmark wurde von der Narkose dieser Musik gelähmt und sein Schicksal erleichtert.

      18

      Moosbrugger

      Zu dieser Zeit beschäftigte der Fall Moosbrugger die Öffentlichkeit.

      Moosbrugger war ein Zimmermann, ein großer, breitschultriger Mensch ohne überflüssiges Fett, mit einem Kopfhaar wie braunes Lammsfell und gutmütig starken Pranken. Gutmütige Kraft und der Wille zum Rechten sprachen auch aus seinem Gesicht, und hätte man sie nicht gesehn, so hätte man sie doch gerochen, an dem derben, biederen, trockenen Werktagsgeruch, der zu dem Vierunddreißigjährigen gehörte und vom Umgang mit Holz und einer Arbeit kam, die ebensoviel Bedachtsamkeit wie Anstrengung fordert.

      Man blieb wie eingewurzelt stehn, wenn man diesem von Gott mit allen Zeichen der Güte gesegneten Gesicht zum erstenmal begegnete, denn Moosbrugger war gewöhnlich von zwei bewaffneten Justizsoldaten begleitet und hatte die eng aneinandergebundenen Hände vor dem Leib, an einem starken stählernen Kettchen, dessen Knebel einer seiner Begleiter hielt.

      Wenn er bemerkte, daß man ihn ansah, zog über sein breites, gutmütiges Gesicht mit dem ungepflegten Haar und dem Schnurrbart samt dazugehöriger Fliege ein Lächeln; er hatte einen kurzen schwarzen Rock mit hellgrauen Beinkleidern an, seine Haltung war breitbeinig und militärisch, aber dieses Lächeln war es, was die Berichterstatter des Gerichtssaals am meisten beschäftigt hatte. Es mochte ein verlegenes Lächeln sein oder ein verschlagenes, ein ironisches, heimtückisches, schmerzliches, irres, blutrünstiges, unheimliches sie tasteten ersichtlich nach widersprechenden Ausdrücken und schienen in diesem Lächeln verzweifelt etwas zu suchen, das sie offenbar in der ganzen redlichen Erscheinung sonst nirgends fanden.

      Denn Moosbrugger hatte eine Frauensperson, eine Prostituierte niedersten Ranges, in grauenerregender Weise getötet. Die Berichterstatter hatten genau eine vom Kehlkopf bis zum Genick reichende Halswunde, ebenso die zwei Stichwunden in der Brust, welche das Herz durchbohrten, die zwei in der linken Seite des Rückens und das Abschneiden der Brüste beschrieben, die man fast abheben konnte; sie hatten ihren Abscheu davor ausgedrückt, aber sie hörten nicht auf, bevor sie fünfunddreißig Stiche im Bauch gezählt und die fast vom Nabel bis zum Kreuzbein reichende Schnittwunde erklärt hatten, die sich in einer Unzahl kleinerer den Rücken hinauf fortsetzte, während der Hals Würgspuren trug. Sie fanden von solchen Schrecknissen den Weg zu Moosbruggers gutmütigem Gesicht nicht zurück, obgleich sie selbst gutmütige Menschen waren und trotzdem das Geschehene sachlich, fachkundig und sichtlich in atemloser Spannung beschrieben. Selbst von der nächstliegenden Erklärung, daß man einen Geisteskranken vor sich habe-denn Moosbrugger war wegen ähnlicher Verbrechen schon einigemal in Irrenhäusern gewesen – machten sie wenig Gebrauch, obgleich ein guter Berichterstatter sich heute in solchen Fragen trefflich auskennt; es sah so aus, als sträubten sie sich vorläufig noch, auf den Bösewicht zu verzichten und das Geschehnis aus der eigenen Welt in die der Kranken zu entlassen, worin sie mit den Psychiatern übereinstimmten, die ihn schon ebenso oft für gesund wie für unzurechnungsfähig erklärt hätten. Und es ereignete sich des weiteren auch das Merkwürdige, daß die krankhaften Ausschreitungen Moosbruggers, als sie noch kaum bekannt geworden waren, schon von tausenden Menschen, welche die Sensationsgier der Zeitungen tadeln, als «endlich einmal etwas Interessantes» empfunden wurden; von eiligen Beamten wie von vierzehnjährigen Söhnen und durch Haussorgen umwölkten Gattinnen. Man seufzte zwar über eine solche Ausgeburt, aber man wurde von ihr innerlicher beschäftigt als vom eigenen Lebensberuf.

Скачать книгу