Der Mann ohne Eigenschaften. Robert Musil

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Der Mann ohne Eigenschaften - Robert Musil

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ebenso gefordert wie ein Preisausschreiben für das beste Feuilleton, weil das Leben unerträglich oder köstlich kurz sei, und man wünschte die Befreiung der Menschheit durch und von Gartensiedlungen, Entsklavung der Frau, Tanz, Sport oder Wohnkultur ebenso wie durch unzählig anderes von unzählig anderem.

      Ulrich klappte die Mappe zu und begann ein Privatgespräch. «Mächtige Kusine,» sagte er «es ist eine verwunderliche Erscheinung, daß die eine Hälfte das Heil in der Zukunft sucht und die andere in der Vergangenheit. Ich weiß nicht, was man daraus schließen soll. Se. Erlaucht würde sagen, daß die Gegenwart heillos ist.»

      «Beabsichtigt Erlaucht etwas Kirchliches?» fragte Diotima.

      «Er hat sich augenblicklich zu der Erkenntnis durchgerungen, daß es in der Geschichte der Menschheit kein freiwilliges Zurück gibt. Aber das Erschwerende ist, daß wir ja auch kein brauchbares Vorwärts haben. Gestatten Sie mir, es als eine merkwürdige Lage zu bezeichnen, wenn es weder vorwärts noch zurück geht und der gegenwärtige Augenblick auch als unerträglich empfunden wird.»

      Diotima verschanzte sich, wenn Ulrich so sprach, in ihrem hohen Körper wie in einem Turm, der im Reisehandbuch drei Sterne hat.

      «Glauben Sie, gnädige Frau, daß irgendein Mensch, der heute für oder gegen eine Sache kämpft,» fragte Ulrich «wenn er morgen durch ein Wunder zum unumschränkten Beherrscher der Welt gemacht würde, noch am gleichen Tag das täte, was er sein Leben lang geforder hat? Ich bin überzeugt, er würde sich einige Tage Aufschub gönnen.»

      Da Ulrich danach eine kleine Pause machte, wandte sich ihm Diotima überraschend zu, ohne zu antworten, und fragte streng: «Aus welchem Grund haben Sie dem General Aussichten auf unsere Aktion gemacht?»

      «Welchem General?»

      «Dem General von Stumm!»

      «Das ist der runde, kleine General aus der großen ersten Sitzung? Ich? Ich habe ihn seither nicht einmal gesehen, geschweige denn ihm etwas in Aussicht gestellt!»

      Ulrichs Erstaunen war überzeugend und heischte eine Erklärung. Aber da auch ein Mann wie Arnheim nicht die Unwahrheit sprechen konnte, mußte ein Mißverständnis vorliegen, und Diotima erläuterte, worauf sich ihre Annahme stütze.

      «Ich soll also mit Arnheim über General von Stumm gesprochen haben? Auch das niemals!» versicherte Ulrich. «Ich habe mit Arnheimgeben Sie mir, bitte, einen Augenblick Zeit» – er dachte nach, und mit einemmal lachte er. «Das wäre ja sehr schmeichelhaft, wenn Arnheim solches Gewicht auf jedes meiner Worte legen sollte! Ich habe mich in der letzten Zeit mehrmals mit ihm unterhalten, wenn Sie unsere Gegensätze so nennen wollen, und einmal habe ich dabei in der Tat auch von einem General gesprochen, aber von keinem bestimmten und nur nebenbei als Beispiel. Ich habe behauptet, daß ein General, der aus einem strategischen Grund Bataillone in den sicheren Untergang schickt, ein Mörder ist, wenn man ihn in Zusammenhang damit bringt, daß das tausende Söhne von Müttern sind; daß er aber sofort etwas anderes wird, wenn man ihn mit anderen Gedanken in Zusammenhang bringt, zum Beispiel mit der Notwendigkeit von Opfern oder der Gleichgültigkeit des kurzen Lebens. Ich habe auch eine Menge anderer Beispiele benützt. Aber hier müssen Sie mir eine Abschweifung gestatten. Aus sehr naheliegenden Gründen behandelt jede Generation das Leben, das sie vorfindet, als fest gegeben, bis auf das wenige, an dessen Veränderung sie interessiert ist. Das ist nützlich, aber falsch. Die Welt könnte ja in jedem Augenblick auch nach allen Richtungen verändert werden oder doch nach jeder beliebigen; es liegt ihr sozusagen in den Gliedern. Es wäre darum eine eigenartige Weise zu leben, wenn man einmal versuchen würde, sich nicht so zu benehmen wie ein bestimmter Mensch in einer bestimmten Welt, in der, möchte ich sagen, nur ein paar Knöpfe zu verschieben sind, was man Entwicklung nennt; sondern von vornherein so wie ein zum Verändern geborener Mensch, der von einer zum Verändern geschaffenen Welt eingeschlossen wird, also ungefähr so wie ein Wassertröpfchen in einer Wolke. Verachten Sie mich, weil ich wieder undeutlich bin?»

      «Ich verachte Sie nicht, aber ich kann Sie nicht verstehn» befahl Diotima; «erzählen Sie mir doch das ganze Gespräch!»

      «Nun, Arnheim hat es hervorgerufen; er hat mich angehalten und förmlich zum Gespräch gestellt» begann Ulrich. «‹Wir Kaufleute› hat er mit einem sehr elementischen Lächeln zu mir gesagt, das zu der ruhigen Haltung, die er sonst beobachtet, etwas in Widerspruch stand, aber doch sehr hoheitsvoll war, ‹wir Kaufleute rechnen nicht, wie Sie vielleicht glauben könnten. Sondern wir – ich meine natürlich die führenden Leute; die kleinen mögen immerhin unausgesetzt rechnen – lernen unsere wirklich erfolgreichen Einfälle als etwas betrachten, das jeder Berechnung spottet, ähnlich wie es der persönliche Erfolg des Politikers und schließlich auch der des Künstlers tut.› Dann hat er mich gebeten, was er jetzt sagen werde, mit der Nachsicht zu beurteilen, die etwas Irrationales beanspruchen dürfe. Er mache sich seit dem ersten Tag, wo er mich gesehen habe, gewisse Gedanken über mich, hat er mir anvertraut, und Sie, gnädigste Kusine, sollen ihm allerdings auch manches von mir erzählt haben, aber er hätte es gar nicht erst zu hören brauchen, versicherte er, und er hat mir erklärt, daß ich merkwürdigerweise einen ganz abstrakten, begrifflichen Beruf erwählt habe, denn so sehr ich auch dafür begabt sein könne, ginge ich doch irre, indem ich Wissenschafter sei, und meine wesentliche Begabung liege, wenn mich das auch wundern möge: im Gebiet des Handelns und der persönlichen Wirkung!»

      «So?» sagte Diotima.

      «Ich bin ganz Ihrer Meinung» beeilte sich Ulrich zu erwidern. «Ich bin für nichts unbegabter wie für mich selbst.»

      «Sie spötteln immer, statt sich dem Leben zu widmen» meinte Diotima, die sich über ihn noch wegen der Mappen ärgerte.

      «Arnheim behauptet das Gegenteil. Ich habe das Bedürfnis, aus meinem Denken zu gründliche Schlüsse auf das Leben zu ziehn, – behauptet er.»

      «Sie spötteln und sind negativistisch; Sie sind immer auf dem Sprung ins Unmögliche und weichen jeder wirklichen Entscheidung aus!» bestimmte Diotima.

      «Es ist einfach meine Überzeugung,» erwiderte Ulrich «daß Denken eine Einrichtung für sich ist, und das wirkliche Leben eine andere. Denn der Stufenunterschied zwischen den beiden ist gegenwärtig zu groß. Unser Gehirn ist einige tausend Jahre alt, aber wenn es alles nur halb zu Ende gedacht und zur anderen Hälfte vergessen hätte, so wäre sein getreues Abbild die Wirklichkeit. Man kann ihr nur die geistige Teilnahme verweigern.»

      «Heißt das nicht, sich die Aufgabe allzu leicht machen?» fragte Diotima ohne beleidigende Absicht, nur so, wie ein Berg auf einen kleinen Bach zu seinen Füßen blickt. «Arnheim liebt auch die Theorien, aber ich glaube, daß er sich wenig durchgehen läßt, ohne es auf alle Zusammenhänge zu prüfen: Meinen Sie nicht, daß es der Sinn alles Denkens ist, gedrängte Anwendungsfähigkeit zu sein...?»

      «Nein» sagte Ulrich.

      «Ich möchte hören, was Ihnen Arnheim darauf geantwortet hat?»

      «Er hat mir gesagt, daß der Geist heute ein machtloser Zuschauer der wirklichen Entwicklung ist, weil er den großen Aufgaben, die das Leben stellt, aus dem Weg geht. Er hat mich aufgefordert, zu betrachten, wovon die Künste handeln, welche Kleinlichkeiten die Kirchen erfüllen, wie eng selbst das Blickfeld der Gelehrsamkeit ist! Und ich sollte daran denken, daß währenddessen die Erde buchstäblich aufgeteilt werde. Dann erklärte er mir, daß er gerade davon zu mir habe reden wollen!»

      «Und was haben Sie erwidert?» fragte Diotima gespannt, denn sie glaubte zu erraten, daß Arnheim ihrem Vetter wegen dessen teilnahmslosen Verhaltens zu den Fragen der Parallelaktion habe Vorwürfe machen wollen.

      «Ich habe ihm erwidert, daß mich das Verwirklichen

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