Die Jahre. Virginia Woolf
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»Oh, Piffpaff! Liebster!« rief sie. Ihr Haar war sehr unordentlich; sie sah ein wenig schluderig aus; aber sie war viel, viel jünger als er und freute sich wirklich, ihn zu sehn, dachte er. Der kleine Hund sprang an ihr hinauf.
»Lulu, Lulu«, rief sie, packte das Hündchen mit der einen Hand, während sie mit der andern ihr Haar betastete, »komm und laß dich von Onkel Piffpaff ansehn!«
Der Oberst setzte sich in den knarrenden Korbstuhl. Sie hob den Hund auf seine Knie. Da sei ein roter Fleck – vielleicht ein Ekzem – hinter dem einen Ohr. Der Oberst setzte die Brille auf und beugte sich hinab, um sich das Ohr des Hundes zu besehn. Mira küßte ihn, wo der Kragen aufhörte, auf den Nacken. Dabei fiel ihm die Brille hinunter. Mira erhaschte sie und setzte sie dem Hund auf. Der alte Knabe war heute nicht bei Laune, das spürte sie. In dieser geheimnisvollen Welt der Klubs und des Familienlebens, von der er nie zu ihr sprach, war etwas nicht in Ordnung. Er war gekommen, bevor sie sich frisiert hatte. Und das war lästig. Aber es war ihr Pflicht, ihn zu zerstreuen. Also flatterte sie – ihre zwar stärker werdende Gestalt erlaubte ihr noch immer, zwischen Tisch und Stuhl durchzugleiten, – hierhin und dorthin; entfernte den Kaminschirm und zündete, bevor er sie abhalten konnte, das kärgliche Logierhausfeuer an. Dann hockte sie sich auf die Armlehne seines Sessels.
»O Mira«, sagte sie, sich in dem Wandspiegel betrachtend und die Haarnadeln umsteckend, »was für ein schrecklich unordentliches Ding du bist!« Sie löste eine lange Haarflechte und ließ sie über die Schulter fallen. Es war noch immer schönes, goldglänzendes Haar, obgleich sie sich den Vierzig näherte und, wenn man die Wahrheit wüßte, eine achtjährige Tochter bei Freunden in Bedford in Pflege hatte. Das Haar begann von selbst zu fallen, durch sein eigenes Gewicht, und Piflpaff, der das sah, neigte sich vor und küßte es. Eine Drehorgel hatte weiter unten in dem Gäßchen zu spielen begonnen, und die Kinder rasten alle in dieser Richtung davon und hinterließen eine jähe Stille. Der Oberst begann Miras Nacken zu streicheln. Er begann, mit der Hand, an der er zwei Finger verloren hatte, tiefer unten herumzutasten, wo der Nacken in die Schultern überging. Mira ließ sich auf den Fußboden gleiten und lehnte den Rücken an sein Knie.
Dann knarrten die Treppenstufen; jemand klopfte leise, wie um auf seine Anwesenheit aufmerksam zu machen. Mira steckte sogleich ihr Haar auf, erhob sich und schloß die Tür hinter sich.
Der Oberst begann auf seine methodische Art abermals das Ohr des Hundes zu untersuchen. War es ein Ekzem? Oder war es kein Ekzem? Er blickte auf den roten Fleck, stellte dann den Hund in den Korb auf die Füße und wartete. Dieses anhaltende Gewisper draußen auf dem Treppenabsatz mißfiel ihm. Endlich kam Mira zurück. Sie sah besorgt aus; und wenn sie besorgt aussah, sah sie alt aus. Sie begann unter Kissen und Überzügen umherzusuchen. Sie brauche ihr Handtäschchen, sagte sie; wo habe sie es nur hingetan? In diesem Durcheinander von Sachen, dachte der Oberst, mochte es überall sein. Es war ein mageres, nach Armut aussehendes Handtäschchen, das sich dann endlich unter den Kissen in der Sofaecke fand. Sie stürzte es. Taschentücher, zerknüllte Stückchen Papier, Silber- und Kupfermünzen fielen heraus, als sie es schüttelte. Aber zwanzig Schilling in Gold hätten darunter sein sollen, sagte sie, – ein Sovereign. »Ich hab’ ganz bestimmt gestern einen gehabt«, murmelte sie.
»Wieviel macht es?« fragte der Oberst.
Es mache ein Pfund – nein, ein Pfund, acht Schilling und sechs Pence, sagte sie und murmelte etwas von der Wäscherin. Der Oberst ließ zwei Sovereigns aus seinem kleinen goldnen Etui gleiten und reichte sie ihr. Sie nahm sie, und dann war wieder Geflüster auf dem Treppenabsatz zu hören.
»Wäscherin ...?« dachte der Oberst, in dem Zimmer umherblickend. Es war ein unsauberes kleines Loch von einem Zimmer; aber da er um so viel älter war als sie, ging es nicht an, die Wäscherechnung in Frage zu ziehn. Und hier war sie wieder. Sie flatterte durchs Zimmer und setzte sich auf den Boden und lehnte den Kopf an sein Knie. Das mißgünstige Feuer, das nur schwach geflackert hatte, war fast erloschen. »Laß es sein«, sagte er ungeduldig, als sie das Schüreisen ergriff. »Laß es ausgehn!« Sie legte das Schüreisen hin. Der Hund schnarchte; die Drehorgel leierte. Seine Hand begann ihre Wanderung, den Nacken hinauf und hinunter, ein und aus in dem langen, dichten Haar. In diesem kleinen Zimmer, so nahe den Häusern drüben, kam die Dämmerung schnell; und die Vorhänge waren halb geschlossen. Er zog Mira an sich; er küßte sie auf den Nacken; und dann begann die Hand, an der die zwei Finger fehlten, tiefer unten herumzutasten, wo der Hals in die Schultern überging.
Ein plötzlicher Regenschauer prasselte auf den Gehsteig, und die Kinder, die in ihren Kreidekäfigen ein- und ausgehüpft waren, rannten nach Hause. Der ältliche Straßensänger, der, auf dem Randstein entlangschwankend, eine Fischermütze keck auf den Hinterkopf zurückgeschoben, geschmettert hatte: »Drückt dich Angst und Sorge nieder – « schlug den Rockkragen hoch und suchte Zuflucht im Eingang eines Wirtshauses, wo er mit der Tröstung endete: » – morgen scheint die Sonne wieder«. Und dann schien die Sonne wieder und trocknete das Pflaster.
»Es kocht noch nicht«, sagte Milly Pargiter, auf den Teekessel blickend. Sie saß an dem runden Tisch in dem vordem Wohnzimmer des Hauses in der Abercorn Terrace. »Noch lange nicht«, wiederholte sie. Der Kessel war ein altmodisches Ding aus Messing mit einem gravierten Rosenmuster, das fast ganz verwischt war. Ein schwaches kleines Flämmchen flackerte darunter. AuchMillys Schwester Delia, die neben ihr in einen Fauteuil zurückgelehnt lag, beobachtete es. »Muß das Wasser kochen?« fragte sie nach einem Augenblick müßig, als erwartete sie keine Antwort, und Milly antwortete auch nicht. Sie saßen schweigend und beobachteten das Flämmchen über dem Büschel gelben Dochts. Auf dem Tisch standen viele Tassen und Teller, als würden noch Leute erwartet; aber für den Augenblick waren sie allein. Das Zimmer war vollerMöbel. Ihnen gegenüber stand eine holländische Vitrine mit blau gemustertem Porzellan auf den Borden; die Sonne des Aprilnachmittags malte hier und da einen hellen Fleck auf die Scheiben. Über dem Kamin lächelte das Porträt einer rothaarigen jungen Frau in weißem Musselin, einen Korb mit Blumen im Schoß, auf die beiden herab.
Milly zog eine Haarnadel aus ihrer Frisur und begann den Docht zu zerfransen, um die Flamme zu vergrößern.
»Aber das hilft doch nicht«, sagte Delia gereizt, während sie ihr zusah. Sie wurde ungeduldig. Alles schien so unerträglich viel Zeit zu brauchen. Dann kam Crosby herein und fragte, ob sie den Kessel in der Küche zum Kochen bringen solle, und Milly sagte nein. Wie könnte ich diesem Getändel und Gefummel nur ein Ende machen, fragte sich Delia, wäh rend sie mit einem Messer auf den Tisch klopfte und auf das schwache Flämmchen sah, das ihre Schwester mit einer Haarnadel weiter hervorzulocken versuchte. Eine Mückenstimme begann unter dem Kessel zu jammern; aber da ging die Tür abermals auf, und ein kleines Mädchen in einem gestärkten rosa Kleid stürmte herein.
»Ich finde, Nannie hätte dir eine reine Schürze umbinden können«, sagte Milly streng, die Art einer Erwachsenen nachahmend. Auf der Latzschürze der Kleinen war ein grüner Schmierfleck, als wäre sie auf Bäume geklettert.
»Sie ist noch nicht aus der Wäsche gekommen«, sagte Rose, das kleine Mädchen, mürrisch. Sie blickte auf den Tisch, aber dort sah es noch gar nicht nach Tee aus.
Milly zupfte abermals den Docht mit ihrer Haarnadel. Delia lehnte sich zurück und blickte über die Schulter aus dem Fenster. Von wo sie saß, konnte sie die Stufen vor der Haustür sehen.
»Also da ist Martin«, sagte sie düster.