Die Jahre. Virginia Woolf
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Aber eine Weile standen die beidenMädchen noch am Fenster und sahn auf die Straße. Die Krokusse in den Vorgärten waren gelb und lila. Die Mandelbäume und Ligustersträucher hatten grüne Spitzchen. Ein jäher Windstoß fuhr durch die Straße, blies ein Stück Papier den Gehsteig entlang und einen kleinen Wirbel trocknen Staubs hinterdrein. Über den Dächern malte sich einer dieser roten, zuckenden Londoner Sonnenuntergänge, die Fenster nach Fenster golden brennen machen. Es war etwas Wildes in dem Frühlingsabend; sogar hier, in der Abercorn Terrace, wechselte das Licht von Gold zu Schwarz, von Schwarz zu Gold. Delia ließ den Vorhang fallen, wandte sich hemm und sagte, in die Mitte des Zimmers zurückkommend, plötzlich:
»O mein Gott!«
Eleanor, die wieder ihre Büchlein vorgenommen hatte, blickte gestört auf.
»Acht mal acht ... « sagte sie laut. »Wieviel sind acht mal acht?«
Mit dem Finger die Stelle auf der Seite bezeichnend, sah sie ihre Schwester an. Wie die so dastand, den Kopf zurückgeworfen und das Haar rötlich im Glühn des Sonnenuntergangs, sah sie einen Augenblick herausfordernd aus, ja sogar schön. Neben ihr wirkte Milly mausfarben und unscheinbar.
»Schau, Delia«, sagte Eleanor, ihr Büchlein zuklappend, »du brauchst doch nur zu warten ... « Sie meinte, vermochte es aber nicht auszusprechen, »bis Mama gestorben ist.«
»Nein, nein, nein«, sagte Delia und streckte die Arme. »Es ist hoffnungslos – « begann sie und unterbrach sich, denn Crosby war hereingekommen. Sie trug einTablett. Eins nach dem andern, mit einem auf die Nerven gehenden kleinen Klirren, räumte sie die Tassen, die Teller, die Messer, die Konfitürengläser, die Kuchenschüsseln und die Butterbrotkörbchen auf das Tablett. Dann ging sie, es vorsichtig vor sich balancierend, hinaus. Es entstand eine Pause. Abermals kam sie herein und faltete das Tischtuch und rückte die Tischchen. Abermals entstand eine Pause. Ein paar Augenblicke später war sie nochmals da und brachte zwei Lampen mit Seidenschirmen. Sie stellte eine ins Vorderzimmer, eine ins Hinterzimmer. Dann ging sie in ihren knarrenden billigen Schuhen zum Fenster und zog die Vorhänge vor. Sie glitten mit einem vertrauten Klappern die Messingstange entlang, und alsbald waren die Fenster verdeckt von dicken, wie gemeißelten Falten aus bordeauxrotem Plüsch. Als sie die Vorhänge in beiden Zimmern vorgezogen hatte, schien sich eine tiefe Stille auf den Raum zu senken. Die Welt draußen schien durch eine dicke Schicht völlig abgeschnitten zu sein. Weit weg in der nächsten Straße hörten sie die Stimme eines Hausierers leiern; die schweren Hufe von Lastwageripferden klopften langsam die Fahrbahn entlang. Einen Augenblick knarrten Räder auf dem Pflaster; dann erstarb das Geräusch, und die Stille war vollkommen.
Zwei gelbe Kreise von Licht fielen unter die Lampen. Eleanor zog ihren Stuhl unter die eine, neigte den Kopf und setzte den Teil ihrer Arbeit fort, den sie immer bis zuletzt Heß, weil sie ihn so gar nicht mochte, – das Zusammenzählen. Ihre Lippen bewegten sich, und ihr Bleistift machte kleine Punkte aufs Papier, während sie Achter und Sechser, Fünfer und Vierer zusammenzählte.
»So!« sagte sie endlich. »Das wäre getan. Jetzt werd’ ich zu Mama gehn und ein wenig bei ihr bleiben.«
Sie bückte sich, um ihre Handschuhe aufzuheben.
»Nein«, sagte Milly, ein Magazin, das sie geöffnet hatte, beiseite werfend, »ich werd’ gehn ... «
Delia tauchte plötzhch aus dem Hinterzimmer auf, wo sie sich herumgedrückt hatte.
»Ich hab’ gar nichts zu tun«, sagte sie kurz. »Ich werd’ gehn.«
Sie ging die Treppe hinauf, sehr langsam, Stufe nach Stufe. Als sie zu der Schlafzimmertür mit den Krügen und Gläsern auf dem Tischchen daneben kam, blieb sie stehn. Der süßsäuerliche Geruch von Krankheit machte ihr ein wenig übel. Sie vermochte nicht, sich zum Eintreten zu entschließen. Durch das kleine Fenster am Ende des Gangs konnte sie flamingofarbene Wolkenlocken auf einem blaßblauen Himmel liegen sehn. Nach der Dämmerung des Wohnzimmers waren ihre Augen geblendet. Es war, als hielte das Licht sie hier fest. Dann hörte sie Kinderstimmen im nächsten Stockwerk oben – Martin und Rose; sie stritten.
»Also laß es bleiben!« hörte sie Rose sagen. Dann schlug eine Tür zu. Sie lauschte, holte tief Atem, blickte abermals auf den feurigen Himmel und klopfte an die Schlafzimmertür.
Die Pflegerin erhob sich lautlos, legte den Finger an die Lippen und verließ das Zimmer. Mrs. Pargiter schlief. In einer Kissenschlucht liegend, die eine Hand unter der Wange, stöhnte Mrs. Pargiter leise, als wanderte sie in einer Welt, wo sich ihr sogar im Schlaf kleine Hindernisse in den Weg stellten. Ihr Gesicht war schlaff und plump; die Haut hatte braune Flecke; das einst rote Haar war jetzt weiß, nur daß seltsame gelbe Stellen darin waren, als wären manche Strähnen in das Dotter eines Eis getaucht worden. Von allen Ringen, bis auf den Ehering, entblößt, schienen schon ihre Finger anzudeuten, daß sie die Geheimwelt des Krankseins betreten hatte. Aber sie sah nicht aus, als wäre sie am Sterben; sie sah aus, als würde sie in diesem Grenzland zwischen Leben und Tod ewig fortexistieren. Delia konnte keine Veränderung an ihr gewahren. Als sie sich setzte, schien alles in ihr selbst in voller Flut zu sein. Ein hoher schmaler Spiegel neben dem Bett warf einen Ausschnitt des Himmels zurück; er war im Augenblick von rötlichem Licht beglänzt. Der Toilettetisch war davon beleuchtet. Das Licht fiel auf Silberflakons und auf Glasfläschchen, alle in der vollkommenen Ordnung von Dingen aufgestellt, die nicht [verwendet werden. Um diese Abendstunde hatte das Krankenzimmer etwas unwirklich Sauberes, Stilles und Ordentliches. Hier neben dem Bett stand ein Tischchen mit einer Brille, einem Gebetbuch und einer Vase voll Maiglöckchen darauf. Auch die Blumen sahn unwirklich aus. Es gab nichts zu tun, als zu schauen.
Sie starrte auf die gelbliche Porträtzeichnung ihres Großvaters mit dem Glanzlicht auf der Nase; auf die Photographie von Onkel Horace in seiner Uniform; auf die hagere, verkrümmte Gestalt an dem Kruzifix zur Rechten.
»Aber du glaubst es doch selber nicht!« dachte sie wild und blickte auf ihre in Schlaf versunkene Mutter. »Du willst ja gar nicht sterben.«
Sie wartete sehnsüchtig, daß die Mutter stürbe. Da lag sie – schlaff, verfallen, aber ewigdauernd – in der Kissenschlucht; ein Hindernis, eine Vereitelung, ein Hemmnis alles Lebens. Delia versuchte, irgendein Gefühl der Zuneigung, des Mitleids in sich aufzupeitschen. Zum Beispiel diesen Sommer, sagte sie sich, in Sidmouth, als sie mich die Gartentreppe heraufrief ... Aber die Szene zerfloß, als sie sie zu betrachten versuchte. Und natürlich war die andre Szene da – der Mann im Gehrock mit der Blume im Knopfloch. Doch sie hatte sich geschworen, bis zur Schlafenszeit nicht daran zu denken. Aber woran sonst sollte sie denken? An den Großvater mit dem Glanzlicht auf der Nase? An das Gebetbuch? Die Maiglöckchen? Oder den Spiegel? Die Sonne war in Wolken versunken; der Spiegel war matt und warf jetzt nur einen graubraunen Fleck Himmel zurück. Sie konnte nicht länger widerstehn.
»Eine weiße Blume im Knopfloch«, begann sie sich zu sagen. Es brauchte einige Minuten Vorbereitung. Ein Saal mußte da sein; und Bankette von Palmen; und zu ihren Füßen ein Parkett mit den dichtgedrängten Köpfen von Leuten. Der Zauber begann zu wirken. Sie wurde von köstlichen Wellen schmeichelhafter und aufregender Gefühle durchdrungen. Sie saß auf dem Podium; eine riesige Zuhörerschaft war da; alles schrie, winkte mit Taschentüchern, applaudierte, zischte, pfiff. Dann erhob sie sich. Sie stand, ganz in Weiß, mitten auf dem Podium; Mr. Parnell war an ihrer Seite.
»Ich spreche für die Sache der Freiheit«, begann sie, die Arme ausbreitend, »für die Sache der Gerechtigkeit, für Irland ... « Seite an Seite standen sie da. Er war sehr bleich, aber seine dunkeln Augen glühten. Er wandte sich zu ihr und flüsterte ...
Plötzlich eine Unterbrechung. Mrs. Pargiter hatte sich ein wenig aus den Kissen aufgerichtet.
»Wo