Die freudlose Gasse. Hugo Bettauer

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Die freudlose Gasse - Hugo Bettauer

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worden, und wir alle haben das größte Interesse, ihn zu erwischen. Es kann dabei auf jedes Wort ankommen, das Sie sagen.“

      Marie weinte bitterlich in ihr Taschentuch hinein. „Die arme gnä Frau, sie war immer lustig und lieb. Und der gnädige Herr, der tut mir noch mehr leid, er hat ja die gnädige Frau so sehr geliebt. Bitt’ schön, Herr Polizeirat, fragen Sie nur, ich werde alles sagen, was ich weiß.“

      „Gut, das ist vernünftig. Also, haben Sie heute an Frau Leid irgend etwas Auffälliges im Benehmen bemerkt?“

      „Jetzt, wo das geschehen ist, fällt mir auf, daß sich die gnädige Frau, bevor sie weggegangen ist, mehr parfümiert hat als sonst und auch mehr in Eile war. Sonst ist es ihr nicht darauf angekommen, um eine halbe Stunde zu spät in die Oper zu kommen. Aber heute hat sie sich sehr getummelt.“

      „Glauben Sie, daß die Dame einen größeren Geldbetrag bei sich gehabt hat?“

      Marie dachte einen Augenblick nach.

      „Jawohl, ganz sicher. Da unser Auto in Reparatur ist, mußte die gnädige Frau mit einem Autotaxi fahren und im letzten Augenblick hat sie noch das Täschchen geöffnet, um nachzusehen, ob sie Kleingeld habe. Ich sah dabei in der Tasche eine ganze Rolle von Fünfhunderttausendkronen-Noten.“

      „Und nun überlegen Sie genau: Wissen Sie, ob und mit wem Frau Leid in letzter Zeit Beziehungen unterhalten hat? Es wird Ihnen, wie ich sehe, schwer zu antworten, aber gerade das ist das Wichtigste. Frau Leid ist in einem obskuren Absteigequartier, hier in diesem Zimmer, von einem Mann ermordet worden. Dieser Mann kann nur ihr Liebhaber gewesen sein. Wissen Sie, wer da in Betracht käme?“

      Wieder weinte Marie. Dann sagte sie entschlossen:

      „Die arme gnädige Frau! Wenn sie unrecht getan hat, so hat sie es mit dem Leben gebüßt. Also — ich glaube nicht, daß es die gnädige Frau mit der Treue sehr ernst nahm. Ich bin, seitdem die Herrschaften geheiratet haben, also seit drei Jahren im Haus. Vor drei Jahren hat es schon angefangen. Der erste war ein russischer Ingenieur, der jetzt wieder in Moskau ist, dann später ein rumänischer Attaché. Mit dem hat es fast ein Jahr gedauert, und wie er nach Paris gegangen ist, hat die gnädige Frau sehr geweint. Später kam dann ein ganz junger Sänger von der Volksoper oft ins Haus, Herr Kurmann. Ob sie etwas miteinander gehabt haben, weiß ich nicht, aber geküßt haben sie sich. Ich habe es selbst gesehen. Im Sommer, als die gnädige Frau nach Westerland gefahren ist, hat sie mir lachend gesagt: ‚Marie, ich bin froh, daß ich den Kurmann loswerde, er ist dumm wie ein echter Tenor. Na, und viel tüchtiger als mein Mann ist er auch gerade nicht!‘“

      Die Herren von der Polizei lächelten belustigt, Demel biß sich fast die Lippen wund. So also hatte die Frau vor ihrem Stubenmädchen über den betrogenen Gatten und den Liebhaber gesprochen! War das nicht überhaupt die moderne Moral jener Frauen, die zu rasch dem Ghetto, dem Harem, der Hörigkeit entwachsen waren! Innerlich schüttelte er sich und dachte: „Gottlob, daß ich nicht verheiratet bin!“

      „Nun, und in der letzten Zeit?“ drängte Hofrat Schmitz.

      „Nach Westerland ist die gnädige Frau noch nach Rimini gefahren und erst vor vier Wochen zurückgekommen. In dieser Zeit wüßte ich niemand, im Haus hat keiner verkehrt und mit wem die gnädige Frau außerhalb zusammengekommen ist, kann ich natürlich nicht wissen.“

      „Wir werden uns den Sänger, den Kurmann, näher ansehen müssen,“ meinte ärgerlich der Präsident.

      „Überflüssig,“ warf Demel ein. „Ich kenne Kurmann persönlich, er ist ein harmloser Bursch und hat heute zum erstenmal den Stolzing in den ‚Meistersingern‘ gesungen. Die Oper dauert von sieben bis nach elf Uhr.“

      Es war fast ein Uhr geworden, als der Präsident die Sitzung für beendet erklärte. In den frühesten Morgenstunden würde nach Fingerspuren geforscht und eine ganze Schar der tüchtigsten Beamten losgelassen werden:

      „Sie, Herr Horak, behalten die Führung!“

      Demel eilte in das Café Payr, stürzte in die Telephonzelle, diktierte für sein Blatt rasch einen Bericht, der die polizeilichen Meldungen ergänzte und erzählte dann dem Bankbeamten Egon Stirner, der ungeduldig auf ihn gewartet hatte, was er erfahren, wobei er aber die von der Zofe enthüllten Liebesgeheimnisse der unglücklichen Frau nicht preisgab.

      Schweigend, jeder in seine Gedanken versunken, saßen die beiden Herren noch eine Weile in dem Kaffeehaus und unwillkürlich dachte der Journalist, als er sich in dem Lokal umsah:

      „Welch grauenvolle Schicksale wohl alle diese geschminkten, forciert lustigen Mädchen in sich bergen, die im Kampf um seidene Strümpfe und scheinbares Wohlleben unaufhaltsam die Lebensleiter abwärts rutschen, bis sie eines Tages im Abgrund verschwinden, im Sumpf versinken!“ —

      4. Kapitel.

      Eine Familie im Abstieg.

      Wiens Entwicklung ist unorganisch, ohne Ziel und Zweck vor sich gegangen. Wien ist wohl die einzige Großstadt, die keine City, kein Wohnviertel hat, sondern ein Kunterbunt von Villen, Luxusbauten, Palästen, Mietkasernen, verfallenen Häusern, Baracken und Armeleutequartieren bildet. In ein und derselben Straße hausen Millionäre und Proletarier, stehen uralte niedrige Häuser mit Gärten und protzige fünfstöckige Talmipaläste mit Lift und Dampfheizung, Palais aus dem siebzehnten Jahrhundert und abscheulich moderne Miethäuser mit ein- und zweizimmerigen Wohnungen für kleine Leute.

      In dieser Beziehung repräsentiert die Melchiorgasse die ganze Stadt. In ihr leben Markthelfer und Gemüsehändler, die um zwei Uhr morgens mit ihren Karren alte Häuser, hinter denen endlose Höfe mit Stallungen sich befinden, verlassen, um auf den Markt zu fahren, in ihr rollen fürstliche Automobile vor die hohen geschlossenen Portale feudaler, wenn auch von außen unscheinbarer Paläste, es gibt da Zinshäuser aus der Gründerzeit und moderne Bureaugebäude, die keine Wohnungen enthalten.

      Genau gegenüber dem Haus Nummer 55, in dem sich der noch immer unaufgeklärte Mord ereignete, stoßen drei Häuser aneinander, die drei Welten verkörpern. Ein kleines, ebenerdiges Haus mit winzigen Fenstern, in die man, wenn sie nicht immer verschlossen wären, bequem von der Straße aus einsteigen könnte, und nebenan ein vierstöckiges Haus, das erbarmungslose Habgier und Profitwut erbaut haben. In jedem Stockwerk acht Wohnungen mit einem gemeinsamen Abort und einem Wasserauslauf auf dem Korridor. Jede Wohnung nur aus einer finsteren Küche und einer anstoßenden Kammer bestehend. Und Küche wie Kammer mit Menschen gefüllt, die in alten, wackeligen Betten aus braunem Tannenholz, auf Strohsäcken und halb demolierten Diwans schlafen. Das sind die Häuser, die dem Hausherrn im Frieden bis zu fünfzehn Prozent des angelegten Kapitals trugen, mehr als doppelt so viel also, wie die Häuser, die für die Wohlhabenden bestehen.

      Das andere, das kleine Häuschen, bietet, wenn man den Toreingang passiert hat, Überraschungen. Man kommt in einen großen, rechteckigen Hof mit einem alten, nicht mehr in Betrieb befindlichen Ziehbrunnen und einem Kastanienbaum. Links und rechts ist der Hof von Türen und Fenstern flankiert, die in kleine, aber nicht unbehaglich erscheinende Wohnungen führen. Und verläßt man den Hof nach rückwärts durch ein zweites Tor, so kommt man wieder in einen Hof, und von diesem in einen dritten. Überall Wohnungen, Werkstätten, Ställe, feuchte Wäsche zum Trocknen aufgehängt, Geranien und Levkojen in zerbrochenen Töpfen vor den Fenstern, Lärm, Hämmern, Musik aus heiseren Grammophonen, Kinderweinen, Zanken, mitunter ein gellender Aufschrei, das Dröhnen dumpfer Schläge, rauhes Lachen, ein sentimentales Lied mit obszönem Kehrreim.

      Eine kleine Stadt für sich, ein ganzes Viertel der Armut und sozialen Zurückgebliebenheit.

      Das

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